Auf einsamen Wegen zwischen Alpen und Meer

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Tante grazie, Ciao ! Wir springen von der Ladefläche eines Kastenwagens heraus und sehen erst einmal – nichts ! Die Etappenverkürzung durch das freundliche italienische Pärchen kam zu spät. Just beim Erreichen des Gipfels des Monte Sacarello wird uns die Aussicht vom aufziehenden Nebel verwehrt. Dafür nageln Geländewagenkolonnen und Enduros auf der Militärstrasse an uns vorbei, Zelte stehen auf dem Gipfelgrat, der einem überdimensionalen Parkplatz gleicht. Was also ist hier los?

Es ist Sonntag, Ausflugstag der Italiener. Und der wird in der Regel mit Auto und Familie verbracht. Zwischendurch deutsche und französische Kennzeichen. Etwaige Wanderer, Fehlanzeige. Immerhin teilen einige schwitzende Radfahrer unsere nicht-motorisierte Fortbewegung.

Heute morgen noch war die Luft vom Sirren und Summen unzähliger Insekten erfüllt, zahllose Blumen wetteiferten um ihre Gunst mit verlockenden Farben und Düften. Bei jedem Schritt ist eine Handvoll erschreckter Grashüpfer zur Seite gesprungen, als sich unsere Füße den Weg durch kniehohes Gras bahnten.

Nur aus der Ferne hörten wir da ein leises Brummen, ohne dass wir das Ausmass des heutigen Verkehrs geahnt hätten. Und dann stießen wir auf die ehemalige Militärstraße zum Gipfel des Monte Saccarello, mit 2200 Meter höchster Punkt Liguriens und somit ein beliebter sonntäglicher Aussichtspunkt. Für uns bedeutet der Trubel eine Autostopp-Abkürzung der heutigen Etappe um 30 Minuten, angesichts ihrer Länge sind wir darüber nicht traurig.

Seit gestern sind wir unterwegs, wollen eine Verlängerung der GTA – der Grande Traversata delle Alpi, der großen Alpenüberquerung (zu Fuss) – bis zum Mittelmeer finden. Wir hoffen mit den bisher spärlichen Informationen aus dem Internet zurechtzukommen. Das einzig sichere was wir ihnen entnehmen konnten war, dass wir auf dem ligurischen Grenzkamm mit absoluter Einsamkeit zu rechnen hätten, und nun das.

Dafür haben wir jetzt am Monte Saccarello die „Alta Via dei Monti Liguri“ (AV), den ligurischen Höhenweg erreicht. Diesem Weg, der von Ventimiglia bis in die Nähe von La Spezia führt, wollen wir rund 70 Kilometer bis zu seinem Ausgangspunkt folgen.

Seit dem frühen Morgen lag der Monte Saccarello in unserem Blickfeld, dem wir, anfangs über ehemalige Ackerterrassen, entgegensteuerten. Früher war der Ackerbau noch überlebensnotwendig für die weit zahlreichere Bevölkerung im Tal, die hauptsächlich von der traditionellen Bergbauernwirtschaft gelebt hat. Heute werden keine Äcker mehr auf den Berghängen bewirtschaftet, die Ackerterrassen sind verbuscht. Zu mühsam und unrentabel ist diese Arbeit geworden. Die wirtschaftliche Situation hat viele Bewohner zur Emigration in die Ebene oder nach Frankreich gezwungen. Der Bevölkerungsrückgang der Ligurischen Alpen ist dramatisch sowohl auf der piemontesischen wie auch auf der ligurischen Seite. Die meisten Einwohner dieser Täler müssen heute zur Arbeit in die Alpenrandgemeinden pendeln, nur wenige können von Landwirtschaft und Tourismus leben. Zwar hat beispielsweise das Tanaro -Tal mit Ormea einen regional bekannten Ferienort und auch Mendatica im Arroscia -Tal weist einen bescheidenen Tourismus auf. Doch auch diese Täler zählen zu Abwanderungsregionen mit starkem Bevölkerungsrückgang.

Der Verkehr und der stramme Wind am Gipfelkamm veranlassen uns weiterzugehen und kaum sind wir auf dem Fußpfad der AV, wird es still hinter unserem Rücken. Nun haben wir die erwartete Einsamkeit.

Nach dem Abstieg auf der Westseite des Saccharello, bereits auf französischem Gebiet, erreichen wir weiter südlich erneut den ligurischen Grenzkamm. Die zahlreichen Grenzsteine auf dieser Etappe belegen unsere ständigen Grenzwechsel zwischen italienischer und französischer Seite. Dieser strategisch wichtige Grenzkamm wurde mit Militärpisten ausgebaut, auf denen die AV überwiegend verläuft. Immer wieder trifft man auf die Ruinen ehemaliger Kasernen und Bunker. Neben Militärpisten setzen wir unsere Füße auf historische Maultierwege, sogenannte „Saumwege“, auf denen früher sowohl der offizielle Warenaustausch zwischen Küste und Hinterland, als auch ein einträglicher Schmuggelhandel betrieben wurde.

Nach der langen Etappe sind wir froh, am späten Nachmittag das schön gelegene Rifugio Allavena vom Kamm aus zu erblicken. Nur noch eine halbe Stunde Abstieg trennt uns von einer Dusche und einem reichhaltigen Abendessen samt zugehörigem Rotwein. Am nächsten Tag lacht die Sonne und ein Wegweiser beim Rifugio verheißt uns „nur“ noch 54 Kilometer bis Ventimiglia. Immer weiter, Richtung Meer, ist die Devise der nächsten Tage.

Statt wieder auf die AV hinaufzusteigen, wählen wir als Alternative den „Sentiero degli Alpini“, einen von Gebirgsjägern in den 1930er Jahren angelegten Weg. Eine gute Wahl wie sich herausstellen sollte. Auf dem schmalen Pfad geht es Richtung Monte Pietravecchia (2038 m) und Toraggio (1973 m), Gipfel, die sich mit ihren schroffen Kalkwänden deutlich von den übrigen abheben und wegen ihres Aussehens auch die „Kleinen Dolomiten Liguriens“ genannt werden. Nachdem der Passo Valletta schon mit Panoramablick bis zu den französischen Seealpen aufwartet, beschließen wir für eine gesteigerte Aussicht einen Abstecher auf den Gipfel des Pietravecchia zu unternehmen. Das Unternehmen lohnt auch noch für etwas anderes. Beim Blick auf die Nord-Ostwand des Monte Toraggio, durch den der Sentiero degli Alpini verläuft, entscheiden wir uns, auch angesichts eines aufziehenden Gewitters, für die „zahmere“ Westumgehung und kehren nach unserem Gipfelabstecher auf die AV zurück. Diese führt uns aussichtsreich und wenig anstrengend zur Gola dell´Incisa und weiter zum Passo di Fonte Dragurina.

Hier können wir zum ersten Mal das Meer im dunstigen Horizont erkennen, 1800 Höhenmeter unter uns. Vorher schweift der Blick über eine Landschaft, die von der Erosion der Fliessgewässer geprägt ist. Die scharfen Grate der Täler erinnern an Landschaften von Modelleisenbahnen. Wir hoffen dagegen Anfang August umsonst auf einen Bach in diesem karstigen Gebiet und treten vom Durst geplagt den Abstieg an. Heute morgen hatte sich eine unserer beiden Wasserflaschen spektakulär in die Tiefe gestürzt. Auch das von oben erwartete Nass fällt aus. Wir träumen vom ersten Schluck eines kühlen Ankunftbiers im Rifugio Gola di Gouta.

Doch noch sind 600 Höhenmeter abzusteigen, erst über steile Almwiesen, dann noch ein Stück durch den Wald. Der Abstieg zieht sich, endlich gelangen wir zum Colle Muratone und treffen auf eine Schotterstraße. Von dort aus sind wir schnell am Colle Scarassan und auch die letzten zwei Kilometer bringen wir auf hartem Untergrund hinter uns. Kaum im Rifugio angekommen, setzen wir unser Vorhaben in die Tat um und zum Glück legt der Wirt auf das leibliche Wohl der Wanderer großen Wert.

Angefangen mit gemischten Antipasti folgen Tagliatelle ai funghi, dann ein köstliches Lamm und beendet wird das Mahl mit Käse und dem obligatorischen Cafè.

Nach einer kurzen Nacht geht es am nächsten Tag in gleichmäßigem Anstieg durch den Margheria dei Boschi, einen Wald der für seine seltenen Tierarten wie Wildkatze, Marder, Uhu, Schwarzspecht und Birkhuhn bekannt ist. Wir sehen leider nichts von der reichhaltigen Fauna, wahrscheinlich haben wir auch nicht mehr den federnden Schritt des ersten Tages. Zwar knackt es im Wald, doch die vermeintlichen Tiere entpuppen sich als Pilzesammler bei ihrem Hobby. Entschädigt werden wir mit dem Blick zurück auf die „Kleinen Dolomiten“, den wir durch die Waldlücken erhaschen. Die zahlreichen Bunkeranlagen zeugen auch hier von der ehemaligen strategischen Bedeutung dieser Region. Wir verlassen den Wald und laufen ein letztes Mal über Almwiesen zur Testa d´Alpe.

Im Laufe des Abstiegs verändert sich allmählich die Vegetation und geht in mediterrane Macchia über. Man sieht der Landschaft an, dass es nicht mehr weit zum Meer ist, die Temperatur nimmt nun stündlich unangenehmere Ausmaße an. Den Stechmücken sind diese Bedingungen wohl angenehmer, sie lassen es sich ungeniert bei uns schmecken. Der tiefe Schlaf im Rifugio Alta Via verhindert nächtliche Juckattacken und am Abend tröstete eine Schüssel mit Spaghetti al Pesto, köstlich zubereitetes Lamm mit Pilzen, begleitet von einem Rossesi di Dolceaqua über die Beulen hinweg. Typischer hätte ein Essen im Hinterland der italienischen Riviera nicht ausfallen können. Denn die Hauptbestandteile Tomaten, Pilze, Zwiebeln, Knoblauch, Olivenöl, Brot und Wein begleiten häufig Lamm-Kaninchenfleisch und Teigwaren. Der Pesto genovese, ein Gericht arabischen Ursprungs, ist das berühmteste Gericht Liguriens.

Schwer fallen die Schritte am nächsten Tag, vielleicht liegt es an der Blutarmut. Doch die Aussicht auf das Meer, zieht die Füße magisch nach Süden. Es geht durch Thymiansträucher, an Weinreben und Olivenhainen vorbei. Auch noch so nahe am Meer ist das ligurische Hinterland von der Entvölkerung betroffen, viele Bauernhäuser ohne Straßenzugang liegen in Ruinen. Nahe an der Küste ändert sich das Bild schlagartig. Hunderte von Gewächshäusern wurden an der Riviera dei fiori, der Küste der Blumen in die Landschaft gesetzt. Die Zierpflanzen sind neben dem Tourismus und dem Olivenanbau ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Und dann sind wir angekommen, in Ventimiglia am Meer, auf das wir uns den ganzen Tag gefreut haben. Autoschlangen und Mopeds knattern an uns vorbei, am Strand klingeln Handys, schreien Kinder und dudeln Transistorradios. Der „normale Lärm“ einer quirligen Kleinstadt dringt wieder in unsere Ohren. Noch einmal haben wir ein Ziel, es sind nur noch einige Kilometer. Nach wenigen Minuten sind wir da. Wir haben noch einmal mit einem längeren Fußmarsch zu unserem Auto gerechnet, als wir gehört hatten, dass der Bus, der uns zurück ins Tanaro-Tal gebracht hat, nicht bis Carnino fährt. Statt dessen bedanken wir uns bei dem netten Franzosen, der mittlerweile in Schweden lebt und seine Familie in Italien besucht hat, steigen aus seinem Auto, nehmen unsere Rucksäcke heraus und verabschieden uns mit einem – tante grazie, Ciao!

Karten

  • Für den Übergang von der GTA auf die AV: Carta dei sentieri 1:25.000, Car- toguida 2: Alpi Liguri: Parco Naturale Alta Valle Pesio e Tanaro. (sehr gute Karte mit Infos auf der Rückseite, zu beziehen beim Autor: Michael Kleider, e-mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.michael-kleider.de)
  • IGC 8 – Alpi Marittime e Liguri
  • IGC 14 - S. Remo/Imperia.

Etappen

1. Carnino Superiore (1397 m.) – Passo di Lagare (1746 m.) – Upega (1297 m.) – Monesi di Triora (1376 m.), 6 h.

2. Monesi (1376 m.) – Piaggia (1310 m.) – Monte Saccarello (2200 m., die AV wird hier erreicht) – Rifugio Allavena (am Colle Melosa, 1545 m.), 8,5 h.

3. Rifugio Allavena (1545 m.) – Passo Valletta (1918 m.) – Gola dell´ Incisa (1685 m.) – Fonte di Passo Dragurina (1810 m.) – Rifugio Gola di Gouta (1200 m.), 6,5 h.

4. Rifugio Gola di Gouta (1200 m.) - Colle Scarassan (1222 m.) - Margheria dei Boschi – Testa d´Alpe (1587 m.) - Azienda Agrituristica „Rifugio Alta Via“ (500 m.), 8,5 h.

5. Rifugio Alta Via (500 m.) – Passo del Cane (593 m.) - Ventimiglia, 4,5 h.

Nützliche Informationen

Gesamtlänge: Von Carnino nach Ventimiglia sind es ca. 80 km, dafür werden 5 Etappen benötigt.

Am Monte Saccarello wird die AV erreicht, der man bis Ventimiglia folgen kann. Dieser Abschnitt der AV ist ca. 70 km lang. Die Gesamtlänge der AV, die von Ventimiglia bis in die Nähe von La Spezia führt, beträgt ca. 450 km.

Die „Alta Via dei Monti Liguri“ (AV) ist rot-weiss-rot und durchgehend gut markiert. Häufig ist die Markierung durch den Schriftzug „AV“ ergänzt.

Übergang von der GTA auf die AV zu Fuß: Will man in Carnino, im Tanaro-Tal, vom Weitwanderweg GTA (Grande Traversata delle Alpi / grosse Alpenüberquerung) zur Alta Via gelangen, steigt man vom Carnino-Seitental über den Passo Lagare (markierter Weg) nach Upega, ins gleichnamige Seitental, ab. Von dort auf der Teerstraße durch den bosco delle Navette nach Monesi di Mendatica (Ü). Im gegenüberliegenden Piaggia beginnt ein markierter Wanderweg zum Monte Saccarello. Auf dessen Gipfel gelangt man auf die AV (siehe Karte).

Reist man mit dem Auto an und lässt es im Tanaro-Tal stehen, kann man von Ventimiglia mit dem Bus ins Tanaro-Tal zurückfahren (Ventimiglia-Imperia-Ormèa).

Alternativ dazu kann man auch die landschaftlich sehr schön verlaufende Tenda-Bahn von Ventimiglia nach Cuneo nehmen und von dort aus mit dem Bus ins Tanaro-Tal fahren (Cuneo-Mondovì-Ceva-Ormea).

Lokale Spezialitäten

  • Pesto genovese: eine dickflüssige Soße aus Basilikum, Meeressalz, Knoblauch, gehackten Pinienkernen, geriebenem Parmesan und Olivenöl. Man mischt sie unter Spaghetti oder Gnochi.
  • Minestrone aus Tomaten, Paprika, Auberginen, Zucchini und Knoblauch.
  • Lamm- und Kaninchenfleisch, mit frischen Pilzen und Kräutern.
  • Wein: rund um Imperia wird der rote Ormeasco erzeugt, bekannt ist auch der Rossesi di Dolceaqua. Aus dem Westen der italienischen Riviera kommt der weisse Pigata.

Beste Reisezeit

Juni bis September, je nach Wetterlage noch Mai und Oktober.

Reiseführer

Bätzing W.: Grande Traversata Delle Alpi. Der Weitwanderweg durch die pie montesischen Alpen. Teil 2: Der Süden, Rotpunktverlag, Zürich 2003.

Unione Camere Di Commercio Liguri (Hrsg.): Höhenweg der ligurischen Berge. 2. Auflage, Genua 2002.

Die GTA und die Alta Via im „Internet“: www.parks.it/grandi.itinerari/altavia

Internetseite zum GTA-Wanderführer: www.wanderweb.ch/gta und www.michael-kleider.de

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