Wo die Sonne im Atlantik versinkt

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Weichkochen kann dauern. Tage, Wochen, Monate. Für unsere „Wanderungen“ entlang der portugiesischen Westküste hat es Jahre gebraucht. Es war ein langer Weg vom Trampelpfad durchs dunkle heimische Tann bis auf die Seitenstreifen 4-spuriger Schnellstraßen unter südlicher Sonne. Angefangen hat das Weichkochen 2004. Nach Süden, hinunter nach Frankreich, wollte ich. Die ganze Strecke über Wanderwege. Der E1, die Jurahöhenwege in der Schweiz, der GR65 in Frankreich. Bekannt, beschrieben, markiert und schön. Nur wenige Straßen, dafür von anderen ausgedacht und vorgekaut.

Die Sache mit dem Weichkochen hat auf eben dieser Wanderung ein alter Mann in Gang gesetzt. Südlich von Frankfurt war das. Wir waren beide auf dem E1 unterwegs. Er in Richtung Norden; und im Gegensatz zu mir, hatte er keine Wanderkarten im Gepäck. Ihm reichte eine Straßenkarte, die gute alte Generalkarte.

Dass er auf dem E1 gestoßen war, sei purer Zufall gewesen. Solange die Markierung ihn nach Norden führe, würde er dem Fernwanderweg folgen. Ansonsten sei ihm die Sache mit den Wanderwegen wurscht. Das Weitwandern auf Wanderrouten hätte er schon seit 20 Jahren aufgeben. Heute reiche ihm eine Straßenkarte. Erwischt er zufällig eine Wanderstrecke ist es gut, muss er auf kleine Straßen, passt es auch. Spinner, habe ich damals gedacht. Jedoch hatte er keine 3 Kilo Wanderkarten im Rucksack, wie ich. Und ihn „zwang“ keine Markierung, wie mich.

Einen Tag später traf ich im Odenwald auf einen jungen Schweizer aus Zürich. Der wollte bis Frankfurt und dort nach Dresden abbiegen. Auch der hatte keine Wanderkarten, war auch mit einer Straßenkarte unterwegs. Noch so einer, der den Autoverkehr liebt, dachte ich. Mitgekocht hat auch Wolfgang Büscher mit seinem Buch „Berlin – Moskau - Eine Reise zu Fuß“. Einfach losgehen, nur die großen Straßen und der direkte Weg nach Osten als grobe Richtschnur, das hat schon etwas Faszinierendes.

Richtig Dampf beim Kochen hat der Rothaarsteig gemacht. Sechs graue, nasse und dunkle Herbsttage durch Wald, Wald und nochmals Wald. Man sieht nichts vom Land, läuft vorbei an den Menschen und kann sich nur über sinnlose Installationen am Weg wundern.

Ein paar Gewürze hat Hamish Fulton mit seinen „Walks“ über Europas Straßen drunter gemischt. Turnschuhe an und ab auf die Straße. Nicht immer, aber oft habe ihm das gereicht. Und dann gab es auch die Tage, an denen eine Bemerkung des Alten vom E1 auflebte. Wandern, hatte er gesagt, lässt sich auch da, wo keine Wanderwege sind, sonst bleibt ein Teil der Welt für Wanderer unentdeckt.

Irgendwann waren wir reif fürs Wandern ohne Wanderwege, ohne Wanderkarten, ohne Wanderführer. Portugal sollte es werden. Immer die lange Atlantikküste entlang. Ein Packen Militärkarten, ein Packen ausgedruckte Satellitenfotos, eine Straßenkarte und ein Reiseführer sollten reichen, denn brauchbare Infos übers Weitwandern in diesem Land waren nicht zu bekommen. Meine E-Mails an die entsprechenden Stellen blieben unbeantwortet, die Infos im Internet drehten und drehen sich immer um Spaziergänge in der Algarve. Einzig der Wanderführer „Algarve“ von Ulrich Enzel aus dem Bergverlag Rother sollte den Einstieg und das Vertrautwerden erleichtern. Denn so'n bisschen hasenfüßig bin ich dann doch, wenn's um was ganz Neues in einem fremden Land geht.

So ausgerüstet stieg ich im Frühjahr 2008 aus dem Flugzeug in Faro, machte eine Etappe vom Flughafen weg am Strand entlang nach Quarteira, noch eine bis Albufeira und hatte die Nase voll. Drei Tage später war ich wieder bei meiner Familie. Eine Woche später stand ich in Pamplona, um den Camino bis Santiagozu gehen, und wieder vier Wochen später in Porto. Erneut war Santiago das Ziel, nun über den Caminho Português, da war meine Frau dabei.

Von Portugal waren wir begeistert. Auf uns wirkte das Land etwas verschlafen, nicht so geschäftig wie sein großer Nachbar. Nur zwei Dinge störten: unsere Landsleute, die ebenfalls auf diesem Weg unterwegs waren - vermutlich die Nachwehen vom Camino francés - und dass wir mal wieder einer Markierung und einem Buch hinterherliefen. Mangels Karten waren wir beiden ausgeliefert. Aber wir wollten wiederkommen, das Land für uns entdecken. Meine abgebrochene Wanderung vom Frühjahr bot sich an. Aus Zeitgründen mussten wir die Küstentour auf zwei große Etappen á 3 Wochen aufteilen: im Oktober 2008 von Lagos nach Lissabon, im März/April 2009 von Lissabon bis Porto. Zusammen gut 620 Kilometer.

Auf beiden Reisen haben wir gefunden, wonach wir gesucht haben, auch wenn wir dafür ein paar hundert Kilometer Straße gehen mussten. An einigen Tagen haben wir Wanderwege gesehen oder kurz unter den Füßen gehabt. Manchmal haben wir die sogar gemieden, weil wir über keinerlei Wissen verfügten, wohin die wenigen markierten Wege überhaupt führen. Die lokalen Tourismusbüros übri-gens auch nicht, jedenfalls nicht, wenn die Wege über die Gemeindegrenze hinausgehen.

Bis auf die oben erwähnten Karten gab es keine Planung. Doch eins haben wir vorher gemacht: Wir haben die Lage der Jugendherbergen und Campingplätze in die Militärkarten übertragen. Jeden Abend, hin und wieder erst beim morgendlichen Aufbruch, haben wir uns Gedanken über die anstehende Etappe gemacht. Nach mehreren Irrwegen und Sackgassen hatte eine halbwegs gesicherte Wegführung Vorrang vor der Suche nach naturbelassenen Wegen. Hauptsache nach Norden, war die Devise, und so nahe an der Küste wie möglich. Und mehr als einmal hat der Zufall den Weg bestimmt. Sei es, dass wir uns verlaufen hatten und auf der Suche nach einer Bar eh schon auf einer anderen Straße gelandet waren, oder der geplante Weg versperrt war.

So, das war‟s mit der Rechtfertigung und Selbstbeweihräucherung. Wer jetzt noch auf Beschreibungen für Wanderwege hofft, darf sich zu den Optimisten zählen.

Ruhiger und warmer Herbst

Lagos – Salema - Sagres – Carrapateira - Aljezur – Brejão – Almograve – Porto Covo – Sines – Fontaínas da Mar – Setúbal – Fontaínhas – Coina (15 km vor Lissabon)

Wir sollen doch den Seitenstreifen der Schnellstraße nehmen, meinte der Vorarbeiter des Bahnarbeitertrupps. Die sei der einfachste und schnellste Weg in die Stadt. Das war kurz vor Sines. Auf der Suche nach einem Weg abseits der Schnellstraße waren wir auf den Bahngleisen, die den viel zu großen Hafen der kleinen Küstenstadt an Europa anbinden, gelandet. Kein Schimpfen, kein lautes Wort, was wir auf der Bahntrasse zu suchen hätten. Dafür der Tipp mit der Schnellstraße. In Portugal ist es durchaus üblich, die nächstbeste Straße zu nehmen – egal ob Autofahrer, Pilger nach Fatimá oder eben Fußgänger. Aber eine Schnellstraße und dann noch mit vier Spuren?

Da waren wir schon ein paar Tage unterwegs gewesen. Trampelpfade hoch über der Steilküste, Staubpisten durchs hügelige Hinterland, weiche Sandwege durch die Dünen, den harten Strand nahe am brausenden Atlantik, Feldwege, Ackerfurchen, den schmalen Betonrand eines langen Bewässerungskanals, in der Mittagshitze flimmernde Teersträßchen, die schmalen Randstreifen wenig befahrener Nationalstraßen, all das hatten wir schon unter den Füßen gehabt, die Standspur einer 4-spurigen Straße noch nicht. Eine halbe Stunde später waren wir in Sines. Begegnet waren uns noch keine zehn Autos. Gut, dachten wir, Schnellstraßen sind ab sofort eine mögliche Alternative. Spätestens hier wurde aus einer Wanderung eine Reise zu Fuß.

Angefangen hatte das alles ganz anders. Ganz im Süden Portugals waren wir noch gewandert. Die Südküste der Algarve hat sich zwischen Lagos und dem Cabo de São Vicente ihre Ursprünglichkeit weitestgehend bewahrt. Keine Betonburgen und ausufernde Villensiedlungen, wie weiter rüber nach Osten. Nur einige kleine Dörfer, die in den tief eingeschnitten, meist trockenen Bachtälern vor dem hier beinahe ununterbrochen wehenden Wind Schutz zu suchen scheinen. Dazwischen Trampelpfade, die oft in der dichten Macchia unterzugehen drohten. Mal hoch über dem Atlantik mit atemberaubender Sicht über die in der Sonne gleißende Steilküste, dann wieder runter zu einsamen Stränden, die um diese Jahreszeit menschenleer waren. Die bröckelnde Abbruchkante der Steilküste und das ewige Rauschen des Ozeans gaben den Weg vor. War der Ozean nicht mehr zu hören, wurden Pfade zu unserer Linken genommen, drohten die im Nirgendwo hoch über dem Wasser zu enden, wieder die Pfade rechts von uns. Lagos – Salema – Sagres, das waren zwei Tage Urlaub, Zeit, um sich nach unserem Besuch im Frühjahr wieder an Portugal zu gewöhnen.

Kurz vor Sagres lief uns eine Wandergruppe über den Weg. Landsleute auf einer geführten Tageswanderung entlang der Klippen. Bis auf ganz wenige Wohnmobilurlauber war das bis Lissabon unsere letzte Begegnung mit Touristen. Ab da gehörte Portugal meiner Frau und mir. Und ab da hatte das Wanderbuch von Ulrich Enzel ausgedient. Für zwei Tage hatte es uns den Einstieg sehr erleichtert. Die Westküste jedoch ist auch für dieses Buch weitestgehend unbekanntes Land. Ab dem Leuchtturm, der über dem südwestlichsten Punkt von Europas Festland thront, sollten die Militärkarten und die Satellitenfotos die Führung übernehmen – und der Zufall.

Der führte uns dann auch sofort auf die erste Landstraße, denn das Vorhaben, uns einen Weg über die unzähligen Trampelpfade zu suchen, endete nach weniger als einem Kilometer. Da gibt es nur die Pfade der Klippenangler. Entweder enden die an einem Felsen hoch überm Meer, oder verbinden mal eben zwei oder drei Buchten, vom undurchdringlichen Gebüsch ganz zu schweigen. Das dürfte auch der Grund sein, warum es für die Westküste keine brauchbaren Wanderführer gibt.

Die geteerte Piste, die uns vom Leuchtturm nach Vila do Bispo führte, ging schon bald in einen schnurgeraden Feldweg über. Die Hoffnung, dass dies so bleiben würde, endete nach wenigen Stunden an der EN-268. In Richtung Norden war das die einzige durchgehende Alternative, sofern wir in Küstennähe bleiben wollten, trotz all der Militärkarten und Fotos aus dem Weltall. Ab da nahmen wir alles, was uns vor die Füße kam. Es waren einige schöne Strecken dabei, nicht zuletzt, weil im Herbst die Straßen autoleer sind.

Die EN-268, später sogar eine Nationalstraße, die N-120 mit ihren diversen Ablegern, wurden zur Wirbelsäule unserer Reise. An so gut wie jedem Tag fanden wir eine Alternativroute, aber wenn nichts mehr ging, war es gut zu wissen, dass da noch eine durchgehende Straße ist.

Nach und nach liefen wir so aus dem gesicherten Wissen unseres Reiseführers heraus. Welcher Reisebuchautor verirrt sich auf den Höhenzug zwischen dem Atlantik und der Nationalstraße südlich von Aljezur? Eine staubige Piste, die nördlich von Carrapateira abzweigt, hatte uns dorthin gebracht. Hinter einem verfallenden Gehöft, das von ein paar an kurzer Kette gehaltenen Hofhunden bewacht wurde, hatte die Piste angefangen. Danach folgte stundenlanges Gehen über die einsame Anhöhe mit Blick auf den Atlantik auf der einen und die im Gegenlicht der Morgensonne silbrig schimmernden Hügel der Serra do Espinhaço de Cão auf der anderen Seite. Hier und da ein einsames Dorf, eine schäbige Kate, ein paar Menschen, die uns neugierig nachschauten, aber nur wenn sie glaubten, wir würden das nicht sehen. Wir wären gerne noch länger da oben geblieben, leider haben wir uns verlaufen und mussten dann auf die Nationalstraße.

Odeceixe hätten wir über die N-120 erreichen können, doch wir fanden eine schmale Nebenstraße. Ein Kopfsteinpflastersträßchen, begrenzt von niedrigen weißen Häusern mit farbenfrohen Fensterlaibungen, führte uns zur Windmühle am Hang. Unsere erste Windmühle war das nicht. Von denen hatten wir schon einige gesehen. Schon am Morgen hatte uns die Neugier zu einer abseits der Nationalstraße liegenden Mühle mit dem charakteristischem Rundturm geführt. Breit und schwer wie alle Windmühlen an dieser Küste, überragte der gedrungene Turm das undurchdringliche Grün der Büsche. Eine sandige Fahrspur führte durchs Gehölz, wohl die Zufahrt, um dann kurz vor Erreichen der Umfriedung doch abzubiegen und der N-120 mit etwas Abstand nach Norden zu folgen. Wieder mal hatte uns der Zufall einen Weg beschert.

Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein alter Mann in der Tür der Mühle von Odeceixe und winkte. Mit einer wortreichen Erklärung wurde ich durch die kleine Windmühle gelotst. Man könne jederzeit wieder mit dem Mahlen anfangen, so gut sei alles in Schuss, deutete ich seine Gesten, riet ich aus den wenigen Worten, die ich verstand. Meine Sprachlosigkeit schien ihm Ansporn zu sein, denn der Redeschwall wollte kein Ende nehmen. Vermutlich war er froh über unser Auftauchen in seiner weißen Windmühle an der Grenze der Algarve.

Im Baixo Alentejo, der nächsten Region, wird die Küste nach und nach niedriger, die Strände dafür immer länger. Wir waren immer öfter auf tiefgründigen, lockeren Sandwegen unterwegs; die ersten Vorboten der unendlichen Sandküste hinter Sines, die wir in wenigen Tagen erreichen sollten. Im Alentejo wurde die Wegfindung bedeutend einfacher. Oft boten die Militärkarten mehrere Alternativen an, sodass wir wählen konnten. Fester Belag, Feldweg oder je weiter wir nach Norden kamen, immer wieder Sandpisten durch die Dünen. Das Gehen auf dem weichen, lockeren Sand wurde schon nach wenigen hundert Metern zur Qual. Schon beim Abrollen verliert der Schuh jeglichen Halt, vom Abstoßen ganz zu schweigen.

Die einsame Atlantikküste mit ihren windzerzausten Kiefern, den verlassenen Stränden, dem grünen Hinterland, ihren kreisförmigen Feldern und den „Anbauflächen“ für den scheinbar so begehrten Rollrasen, wurde für ein paar Tage unsere Heimat.

Wir waren meist schon frühmorgens unterwegs. Um diese Zeit war Portugal noch ganz still. Nicht, dass es an dieser Küste in diesem Herbst je laut wurde, aber die frühen Morgenstunden waren still und wirkten wie ein Verstärker für die von Menschen verursachten Geräusche.

Der tuckernde Motor eines Traktors, der im Schritttempo einen Anhänger übers Gemüsefeld zog, hämmerte sich in den Morgen. Im Schlepptau Männer und Frauen bei der Salaternte. Die schwatzenden Frauen, die auf den fliegenden Händler warteten, waren in der engen mit Schlaglöchern übersäten Dorfstraße schon zu verneh-men, bevor sie zu sehen waren. Der Lkw, der mit laufendem Motor direkt vor der Bar mit dem von der Sonne rissig gewordenen Plastikvordach parkte, war noch viel länger zu hören.

Dann wurde es auch schon Zeit für den ersten Kaffee in einer Bar am Straßenrand, in einem namenlo-sen Ort oder in einer der wenigen „Hochburgen“ des Tourismus, die um diese Jahreszeit schon dem Winterschlaf entgegen fiebern. Mit Kaffee haben wir uns durch Portugals untere Hälfte gesoffen, man muss es so nennen. Die 50 oder 60 Cent für den kleinen Schwarzen waren immer griffbereit. Mal eben in eine Bar reinspringen, sich zwischen Landarbeiter oder Handwerker zwei Tassen über die Theke reichen lassen, wurde zum festen Ritual. Uns trieb ja niemand. Ein Schlafplatz für die Nacht war immer sicher. Irgendwo an dieser Küste war immer ein Bett frei oder fand sich ein offener Campingplatz.

Zambujeira do Mar hat es bis in die Reiseführer und Kataloge der Reiseveranstalter geschafft Ein weißes Kirchlein hoch über den Klippen, drumherum weiße Häuser. Am Fuß der Klippen ein von der Ebbe freigelegter Sandstrand, auf dem Krabbensammler hin und her huschten. Oben an der Mauer lehnten drei alte Männer die übers Meer schauten. Vermutlich kommen sie jeden Morgen hierher. Hier trafen wir den einzigen mürrischen Wirt unserer Reise. War wohl spät geworden gestern Abend, oder wir zu früh für „nen Kaffee.

Die Jugendherberge in Almograve erreichten wir viel zu früh. Die Rucksäcke durften wir abstellen, wiederkommen jedoch erst am frühen Abend. Almograve, auch so ein Ort mit weißen Häusern am Meer, aber nicht überm, hinterm Meer, hinter einer mächtigen Düne Ein Kirchlein, ein Kindergarten, zwei, drei Bars, ein paar Pensionen, zwei Restaurants, die um diese Jahreszeit schon lange nicht mehr alle offen waren. Dorfleben im Kriechgang. Passend dazu das Restaurant. Die Mutter in der Küche, der Sohn macht den Kellner. Eine Speisekarte gab es mal wieder nicht, gut so. Der Sohn rasselte die drei Fisch- und die zwei Fleischgerichte runter, die Muttern auf der heißen Herdplatte hatte, dazu noch den Nachtisch, der wie so oft im Süden einem Plastikbecher entspringen sollte. Sicherlich, das Dargebotene würde keinen Feinschmecker glücklich machen, Hausmannskosten eben, reichlich und preiswert.

Ja, und dann waren wir in Sines. Vasco da Gama wurde da geboren. Neben ein paar Schnellstraßen hat Sines ein architektonisch tolles Centro de Artes, in dessen Lesesaal wir uns eine Stunde kostenloses Internet erschnorrten. Mal eben nachsehen, wie das mit einer Fährverbindung zwischen dem langen Finger der Halbinsel Troia und Setúbal aussieht. Irgendwie mussten wir ja über das Mün-dungsdelta des Rio Sado. Wie so oft fanden wir mal wieder keine verwertbaren Infos, die gab es dann in der Touri-Info. Na ja, dafür sind diese schließlich auch da.

Am nächsten Morgen lag sie dann vor uns, die portugiesische Sandküste. Bis hoch nach Setúbal erstreckt sie sich. Mehr als 70 km durchgehender Strand, dazwischen eine Hand voll Dörfer und ein paar Meter hinter der Küste eine Straße. Kilometer um Kilometer nur Sand und Kiefern. Das Vorhaben, die komplette Strecke über den Strand zu gehen, gaben wir wegen Probleme mit den Gelenken bald auf. Es wurde eine Mischung aus allem, und wie der Zufall es will, sind wir deshalb auf einen Fernwanderweg gestoßen. Zwischen Aldeia de Brescos und Melides leuchtete die weiß-rote Markierung des GR11/E9 (vermutlich) von den Baumstämmen. Eine halbe Stunde waren wir auf dem unterwegs, bis wir wieder auf die Straße gewechselt sind. Wohin die führte war ersichtlich, bei der Markierung nicht.

Die Monotonie der Sand- und Kiefernwüste war großartig. Vielleicht, weil nach stundenlangem Gehen auch jede noch so banale Abwechslung einen anderen Stellenwert für uns bekommen sollte. Belanglosigkeiten, wie das „Estabelecimento Prisonal“ auf halbem Weg zur Fähre. Die rostigen Schilder am Straßenrand haben schon zu Zeiten der Diktatur vorm Betreten des Geländes gewarnt. Kilometer auf Kilometer „ZONA PRISONAL“, bis dann endlich der moderne Knast auftauchte. Der alte, der aus Salazars Zeiten, war auch noch da, jedenfalls die Wirtschaftgebäude. Zwei niedrige, langgestreckte Wohngebäude parallel nebeneinander. Im Schatten Männer auf alten Stühlen und Hockern. Ausnahmslos alte, kleine, krumme Männer. Davor mal wieder ein rostiges Schild: „ZONA PRISONAL“. Ex-Gefangene, die hier ihren „Ruhestand“ runterreißen? Ich hätt' rüber gehen können. Meine Frage wäre bestimmt nicht ohne Antwort geblieben, denn neugierig waren auch sie. Wann kommen hier schon mal zwei Menschen mit Rucksäcken zu Fuß die Straße hoch? Aber darf man einfach mal so nachfragen, nur so aus Neugier, als Voyeur?

Klasse war auch Torre. Ein Nest, weniger noch. In zwei Minuten waren wir durch. Eine vernagelte Cafeteria am Straßenrand, gegenüber eine leerstehende Lagerhalle, die halb so lang ist wie der Ort, auf den Strommasten ein paar Störche. Treff- und Mittelpunkt ist die einsame Tankstelle auf halbem Weg nach Comporta. Dort sahen wir dann die ersten Reisfelder in Portugal. Leider waren die schon abgeerntet In der Sonne trocknendes Reisstroh zeichnete geometrische Muster in die Landschaft.

Ein wirklicher Höhepunkt war jedoch die Steilküste dieser Region. Nicht sonderlich hoch, dafür aus ziemlich weichem Sandstein. Keine Küste für die Ewigkeit, eher dauernde Veränderung. Sonne, Wind und Regen sind die Bildhauer. Schluchten, Gruben, Löcher, Kämme, Tore, Höhlen, Grate, Rinnen. Vereinzelt hat etwas Grün einen Platz gefunden. Schön für ein paar Jahre, vielleicht nur bis zum nächsten Regen, der wieder Neues schaffen wird.

Dann war da noch die Strecke zwischen Setúbal und Lissabon. „Südlich des Tejo“ nennt der Reiseführer (Portugal, Michael Müller Verlag) den Landstrich lapidar. Dafür hätte es etwas Planung gebraucht, nicht viel. Aber das blinde Vertrauen in die Militärkarten war in dem Fall ein Fehler. Bis Cahilhas wollten wir gehen. Ab da mit der Fähre rübersetzen, das wäre es gewesen. Als Fußgänger kann man nicht dichter an die Hauptstadt ran. Versucht hatten wir das. Gescheitert sind wir am wuchernden Moloch der südlichen Vorstädte Almadas, an Meter hohen stachel-drahtbewehrten Zäunen, an Straßen, die noch keinen Weg in die Karten gefunden haben und schlussendlich am neuen lichtdurchflutetem Bahnhof vom Coina. Acht Tage hätten wir noch Zeit gehabt, für die letzten popeligen 15 km bis Lissabon. Aber direkt am Weg so ein Bahnhof, unverantwortlich!

Sollten wir dort nochmals zu Fuß unterwegs sein, würde es der direkte Weg über stark befahrene Straßen bis Palmela werden, dann weiter zum nächstgelegenen Fährhafen. Das lässt sich in einem Tag schaffen, wie ein Ehepaar aus der Schweiz nur wenige Tage nach uns bewiesen hat. Der Herbst an Portugals Westküste war gemütlich. Nachsaison eben. Die Touristen sind endlich weg. Das Geld ist verdient, wenn nicht, lässt sich das nun auch nicht mehr ändern. Man freut sich auf ein paar ruhige Monate, bevor der Trubel im nächsten Frühsommer erneut anläuft. Die wenigen Reisenden in dieser Jahreszeit zehren von den Hinterlassenschaften und der Infrastruktur der Hauptsaison. Noch ist alles da, wenn auch im Ausverkauf. Bis auch das letzte „Residencial“ die Rollläden schließt, beim Lebensmittelladen das Scherengitter für Monate ins Schloss fällt und die Straßen den Winterstürmen und den wenigen wirklichen Einwohnern überlassen werden.

Morgens etwas Bewegung, nachmittags Zeit totschlagen, so sahen unsere Tage aus. Rumlungern auf dem von der heißen Nachmittagsonne warmen Mäuerchen, dass den Kirchplatz in Carrapateira umschließt. Der Blick geht hinüber zum Hügel mit der Windmühle und zur Sandbucht ganz weit hinten am Meer, die zu weit weg ist, um das Tosen der Brandung zu hören. Lautlos brechen die meterhohen Wellen, die der starke Wind immer und immer wieder ans Land treibt. In langen Fahnen reißt Gischt von den brechenden Wellenkämmen, legt sich im Licht der tief stehenden Herbstsonne wie feiner Bodennebel über die Bucht. Die Rucksäcke in den Sand, an den Randstreifen, aufs staubtrockene Gras stellen, Kramen nach der knisternden Dünnplastiktüte mit dem trockenen Brot, dem Käse oder der Salami, deren Fettbestandteile sich in der Mittagshitze selbständig machen. Dazu eine Wasserflasche mit lauwarmer Brühe. In solchen Augenblicken konnte es nicht Schöneres geben. Vor uns der rauschende Atlantik, über uns strahlend blauer Himmel. Wechselweise hinter uns nur zwei Fußspuren, verwehende Reifenspuren einer Sandpiste, flimmernde Hitze über schwarzem Asphalt. Einfach nur dasitzen und übers Wasser schauen mit dem Bewusstsein, dass da vorne, wo das Wasser des Atlantiks schäumend am Strand ausläuft, der alte Kontinent endet.

Das Wetter im Oktober 2008 spielte auch mit. Wir hatten eine halbe Stunde Regen, der Rest waren Sommer, Sonne, Wolkenspiele, aufgepeppt von einem angenehmen Wind. Eben so, wie unsereiner sich den Herbst im Süden vorstellt. Die Reise im folgenden Frühjahr war anders, richtig anders: brausender, straßiger, gradliniger und viel überraschender (Anführungszeichen nach Bedarf, das ist der interaktive Teil).

Fortsetzung der Tour im Frühjahr 2009 ... Ohne Wanderzeichen durch Portugal

Vor Porto NuovoKüstenpfad vor Santa CruzEstrada AtlânticaHinterland westliche AlgarveKüste bei LagosAuf nach Norden, südlich von AlejzurBei Zambujeira do MarWindmühle in CarrapateiraSand und KiefernAm Rio Sado bei ComportaNach Norden auf der EN-268Porto CovoKorkeicheSinesIn den Dünen von QuiajosSandküste bei Malha BranchaReisfelderLissabon
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