Auf dem „Sentiero Alpino“ von Santa Maria nach San Bernardino
Charakter und Geschichte des Höhenwegs
Zwischen der Valle Mesocco (schweizerdeutsch.: Misox), durch die von San Bernardino der Autoverkehr Richtung Bellinzona fließt, und den Tessiner Tälern Leventina und Riviera, durch die vom Gotthard und vom Lukmanier her Autourlauber und Lastwagenkolonnen (durch Leventina/Riviera auch in dichtem Takt Güter- und Personenzüge) Richtung Bellinzona und weiter nach Mailand brausen, zwischen Lärm hüben und Lärm drüben also, liegt ein einsames, stilles, wildes Tal: die Valle di Calanca. Sie gehört zum schweizerischen Kanton Graubünden, öffnet sich jedoch in ihrer Bergumfassung nach Süden in die italienità und ist sprachlich auch von dorther bestimmt. Nicht der ferne Bündner Hauptort Chur, sondern die nur wenige Dutzend Straßenkilometer entfernte Tessiner Kantonshauptstadt Bellinzona bildet für die Bewohner von Calanca-Dörfern wie Rossa, Cauco und Selma den ‚zivilisatorischen Andockpunkt‘. Dem trägt der Linienbusverkehr Rechnung, der das Örtchen Grono, bei dem das Calanca-Tal ins Misox mündet, mehrfach täglich mit dem Tessiner Zentrum verbindet. Auch sonst hat das Graubünden des Calanca-Tals nichts zu tun mit der preistreibenden touristischen Geschäftigkeit, durch die etwa das illustre bündnerische Engadin den Stille und Naturerlebnis suchenden Bergwanderer irritiert. Weder klingen im Calanca-Tal, das von der Calancasca durchflossen wird, die großen Namen exklusiver Winterkurorte auf, noch blickt man hier zu Drei- oder Viertausendern auf, um deren Fuß sich die Bergsteigerzunft mit begehrlichen Blicken schart.
Um nicht mißverstanden zu werden: Auch das Calanca-Tal hat seine anspruchsvollen Gipfel, aber ihre Namen (etwa der Piz Pian Grand 2668 m oder der Pizzo di Strega mit 2912 m) sind außerhalb der Talschaft kaum bekannt, ausgenommen der des Zapporthorns (3152 m) im nördlichen Talschluß – ein markanter ‚Mutterberg‘, der drei Grate und drei Talbecken (Misox, Calanca, Rheinwald) scheitelt. Anspruchsvoll ist die Valle di Calanca indes nicht nur für Kletterer, sondern auch für Weitwanderer, denn die abschüssigen Hänge, über die der ca. 45 km lange Sentiero alpino in etwa 22 Fußstunden zieht - je nach Etappenteilung in drei oder vier Wandertagen zu bewältigen - sind alles andere als ein Schlenderterrain.
Daß man heute die gesamte Ostseite der Valle di Calanca, wild und abschüssig wie sie ist, auf einem klar markierten und gut gewarteten Fußweg traversieren kann, ist an erster Stelle das Verdienst von Wilfried Graf, Lehrer aus Binningen in der Deutschschweiz, der Anfang der 1970er Jahre, als er im Calanca-Tal ein Ferienhaus erworben hatte, daran ging, die verfallenden und zuwachsenden Alppfade auf den Osthängen zu rekonstruieren. Ließ sich die Bereinigung traditionell begangener Pfade, die mit der Axt freizuschlagen waren, noch mit der Tatkraft eines engagierten Einzelnen bewältigen, so bedurfte es überall dort am Calanca-Steilhang, wo älplerische Spurvorgaben fehlten, vieler Muskeln und Willenskräfte, um durch die Anlage neuer Wegstücke eine durchgehenden Route zu schaffen. Es gelang Graf (im Rahmen des staatlich geförderten Jugendaustauschs), eine international zusammengesetzte Gruppe dafür zu gewinnen, 1978 die ersten neuen Pfade zu trassieren. Die jungen Leute operierten von hochgelegenen Zeltstationen aus und bewiesen im Gelände viel Courage, wenn sie mit Hacke und Spaten schwach ausgeprägte Wildwechsel und ‚gedachte Linien‘ am Hang zu ebenen Pfaden ausbauten. Aus dem fruchtbaren Arbeitszusammenhang des Pionierjahres heraus entstand der „Verein für Höhenwege im Calancatal“, später umbenannt in „Associazione Sentieri Alpini Calanca“ (ASAC) und bis heute fortbestehend. Die großzügig aufgerundeten Beiträge der Mitglieder – aber auch Zuwendungen vieler Talbewohner – schufen die notwendige finanzielle Basis für die Fortführung des Projekts. Schon im Sommer 1981 war der Höhenweg auf der Ostseite des Calanca-Tals zwischen Santa Maria im Süden und San Bernardino im Norden in ganzer Länge begehbar, in vielen Passagen allerdings noch ungesichert. In seiner heutigen, befestigten (da und dort Fixketten oder –seile, eine Metalleiter) Gestalt besteht er, durchgehend weiß-rot-weiß markiert, seit 1983. (Der naheliegende Plan, den Sentiero alpino auf der Westseite des Tals fortzusetzen, ihn also zu einer großen Calanca-Schleife auszubauen, hat sich, obwohl die Talwestseite landschaftlich zahmer ist als die Ostflanke, bislang nicht realisieren lassen; stets band die Wahrung der vorhandenen Trasse die Energie der Mitglieder.)
Der Calanca-Höhenweg, wie die Deutschschweizer ihn kurz nennen, konnte natürlich nur dann Zuspruch finden, wenn nicht nur Pfade, sondern auch Unterkunft geschaffen wurde. 1981 ermöglichte eine Spende des Schweizer Bundes (20 000 Franken) den Bau einer ersten Hütte, etwa auf der Mitte der Strecke, westlich unter dem Buffalora-Paß, doch wurde der bescheidene Bau im Winter 1985 durch eine Lawine zerstört. Für einige Jahre boten lediglich zwei Selbstversorgerhütten, der Bivacco Pian Grand (2398 m - 14 Lager) und der Bivacco Ganan (2375 m - 8 Lager), beide Sommer 1982 im Nordabschnitt des Sentiero Alpino errichtet, den Weitwanderern Nächtigung. Die ebenso zweckmäßige wie originelle Architektur dieser Hüttchen mit ihren dreieckig bis zum Grund heruntergezogenen Bedachungen hat bei den Weitwanderern viel Anklang gefunden. Ihnen steht hier alles Notwendige zur Verfügung: Matratzenlager, Wolldecken, Gaskocher (gespeist aus Butangasgroßflaschen), Kochgerät, Geschirr, Besteck, Gewürze, meist auch einige Grundnahrungsmittel, die aber nur im Notfall angetastet werden sollten. 1987 entstand als Hauptstützpunkt der Route eine neue Capanna Buffalora (2078 m), bewirtschaftet zwischen Ende Juni / Anfang Juli und Anfang/Mitte Oktober. Die schön zwischen Alpenrosenfeldern und Lärchengehölz gelegene Blockhütte bietet in vier Räumen insgesamt um die 25 Lager. Als vierte Hütte, wiederum eine einfache Selbstversorgerunterkunft, komplettiert seit einigen Jahren der Rifugio Alp de Fora (1844 m/15 Lager) das Hüttenensemble am Calanca-Höhenweg. Zwar stand die Alp auch zuvor schon als primitive Schutzhütte zur Verfügung, nun aber, nach ihrer Neuausstattung, ist sie zum vollwertigen Bivacco geworden. Wichtigste Konsequenz für die Routenplanung: Der Calanca-Höhenweg läßt sich seither auch von Süden nach Norden begehen.
Für eine solche Süd-Nord-Begehung spricht, daß die Mehrzahl der prekär ausgesetzten Stellen (z.B. Nomnom-Südseite, Fil de Ciar) nun im Aufstieg, nicht mit den im steilen Bergrevier unangenehmen Abstiegstiefblicken zu bewältigen ist. Angenehmer ist es auch, die Leiter im Schluß des feuchten, steinig-gerölligen Auriglia-Quertals im Auf- statt im Abstieg zu erklimmen. Außerdem erreicht die Süd-Nord-Traverse den höchsten Punkt (2514 m) des Sentiero Alpino - wie man es als Weitwanderer nach dem Prinzip der Steigerung schätzt - nun erst auf der vorletzten Etappe. Bei der traditionell bevorzugten Laufrichtung gegen Süden überschreitet man diesen Hochpunkt, den Bedoleta-Ostgrat, dagegen gleich auf der ersten Etappe. Somit also ein Plädoyer für eine Süd-Nord- statt für die gewohnte, in der Siedlung San Bernadino einsetzende Nord-Süd-Begehung!
Fordernd genug wird’s trotzdem, denn auch in ‚unserer‘, ein wenig leichter zu gehenden Richtung erfordert die kühne Trasse Aufmerksamkeit und Trittsicherheit (die ASAC selbst formuliert unmißverständlich: »Sentiero alpino - nichts für Spaziergänger«). Teleskopstöcke sind in den Steilpassagen hilfreich. Bei Schneeauflage (bis Ende Juni/ab Ende Oktober in den Hochlagen), aber auch im Dauerregen, wenn das Gefels rutschig wird, ist der Calanca-Höhenweg geübten, kaltblütigen Berggehern vorbehalten. Generell sollte man bei Wetterbedingungen, die den ohnedies anspruchsvollen Weg heikel machen, ohne falschen Stolz ins Tal absteigen, wo es z.B. in Braggio, Selma und Rossa Albergo-Unterkunft gibt.
Die Route
Anfahrt: Von Bellinzona besteht im Sommer tagsüber alle zwei Stunden Busverbindung (insgesamt eine knappe Stunde Fahrt; Umsteigen in Tevegno) nach Santa Maria (955 m), einer Höhensiedlung auf der Bergzunge zwischen Calasca-Tal und Mesocco. Hier beginnt für uns der Höhenweg. Wer spätabends eintrifft findet im Albergo „Bellavista“ (Tel. 091/827 12 22), direkt neben der Kirche, eine schlichte, aber angenehme Unterkunft. Die Marienkirche des Örtchens, ältestes Gotteshaus des Calanca-Tals, besitzt übrigens eine sehenswerte Kassettendecke aus der Zeit der Renaissance. Von der Plattform des mittelalterlichen Wehrturms auf dem Felsen hinter der Kirche überblickt man das vordere Misox.
Erster Tag: Der Sentiero alpino setzt ein mit einem knapp dreistündigen Waldaufstieg, der – streckenweise auf Forstwegen - über die Ferienhäuser von Nadi (1383 m), zuletzt in einer steilen, felsigen Passage, die mit einem Fixdrahtseil gesichert ist, zur Weidelichtung Pian de Renten (1914 m) führt. Von dort in einer guten Viertelstunde im Wiederabstieg durch Tannenwald nach Alp de Fora (1844 m), wo die erwähnte Selbstversorgerhütte steht. Man kann sich Zeit lassen auf diesem ersten Wandertag und etwa in Pian de Renten eine Rast einlegen, denn nur wer frühmorgens in Santa Maria aufgebrochen ist und über sehr gute Kondition verfügt, sollte sich zutrauen, bis zur nächsten Unterkunft (Buffalora-Hütte) durchzugehen - das würde sich zu einem sehr anstrengenden ersten Wandertag mit reichlich 9 Stunden reiner Gehzeit, real also 10 bis 11 Stunden, aufrechnen. Die meisten Wanderer, die in Bellinzona (gut bestückter Supermarkt, knapp 10 Min. vom Bahnhof: die Viale Stazione hinunter bis auf die Höhe der Post, dann rechts abzweigend durch die absinkende Via Claudio Pellandini bis zur Hauptdurchgangsstraße; Supermarkt unmittelbar rechts am Eck) Verpflegung für die Selbstbekochung auf Alp de Fora einkaufen, werden ohnehin erst am späteren Vormittag in Santa Maria eintreffen.
Zweiter Tag: War der erste Tag bis auf das Steilstück vor Pian de Renten technisch unproblematisch, eine Einlaufetappe eben, so bestätigt die zweite Etappe den Ruf des Calanca-Höhenwegs als ebenso reiz- wie anspruchsvolle Bergroute. Zunächst durch lichten Tannenwald. Über die Ruinen der Alp de Settel (1828 m) erreicht man nach reichlich einer Dreiviertelstunde die Felsen von Mottone (2100 m). Wer leichte Kletterei nicht scheut, genießt vom Felsaufbau bei klarer Sicht einen ersten Blick auf die ganze Länge des Calanca-Tals. Der Mottone ragt über dem Calanca-Höhendorf Braggio auf, und mächtige Lawinensperren, die schon vorab aufgefallen sind, schützen die Häuser dieser hübsch auf einer Sonnenterrasse gelegenen Streugemeinde, die durch eine Seilbahn von Arvigo im Calanca-Talgrund her erschlossen wird. Nächstes Ziel – eine knappe Stunde geht man bis dort - ist die Auriglia-Schlucht (ca. 1800 m). Viel Geröll und Fels am Pfad, und auch zwei kleinere Schneefelder können bis Mitte Juli zu queren sein. Im Gegenaufstieg durch ein feuchtes Couloir hilft im gestuften Fels wiederum eine Fixsicherung, und nach der erwähnten Metalleiter, die an eine steile Klippe gelegt ist, gewinnt der Pfad am steindurchsetzten, niederbewachsenen Hang weiter an Höhe, bis Busc Negher/Bosch Ner (2006 m) erreicht ist. Zur Rechten steigt der Pizzo della Molera auf – entsprechend ist dieser Pfadabschnitt als ‚Molera-Weg‘ bekannt. Weiter durch eine Felsrinne (Ri Porton) und relativ eben (lichter Lärchenwald, Erlenstauden) auf ca. 1950 m Höhe dahin, bis nach unbedeutendem Aufstieg die Motta del Perdül (2003 m) erreicht ist. Wie beim Mottone lautet die Empfehlung, zum höchsten Punkt dieser Felskanzel aufzusteigen (nur wenige Minuten) und von dort den Weit- und Tiefblick über die Lärchenwälder zu genießen. Seit der Alp de Fora sind wir inzwischen reichlich 3 Std. unterwegs.
Es geht nun wieder abwärts: zunächst problemlos in Weideterrain zu den Ruinen der ausgedienten Alp d’Aion (1960 m) – guter Rastplatz, Quellwasser steht zur Verfügung. Etwa eine halbe Stunde tiefer liegen die intakten, dachziegelrot gedeckten Hütten der neuen Alp d’Aion. Verfallen ist dagegen auch die Alp Aion desora (2093 m), die wir über die Hangschrägen einer wasserreichen Almmuschel erreichen. Nach dem Bach Ri de Ravisc (ca. 2240 m) folgt der anspruchsvolle ‚Nomnom-Abschnitt‘ des Calanca-Höhenwegs. Der Nomnom-Gipfel (2633 m; s.u.) selbst erhebt sich zur Rechten.
Entlang von Fixseilen geht es, mit der gebotenen Vorsicht, aufwärts durch eine Rinne und bald auch über den Nomnom-Westgrat (Fil de Nomnom; 2427 m; höchster Punkt dieses Wandertags). Der Abstieg führt, zunächst wenig abschüssig, zu einem Quellplateau, danach, teils durch Blockfelder, zum Buffalora-Paß (2261 m) am tälerverbindenden Pfad zwischen Soazza (Misox) und Rossa (Calanca). Vom Paß sind es nur noch 20 bequeme Abstiegsminuten, in den obersten Baumbereich (Lärchen) eintretend, bis zur Buffalora-Hütte (2078 m; Tel. 091/828 14 67; empfohlen sei ein Anruf/Vorbuchung schon vor dem Aufbruch in Bellinzona). Mit den kleinen Exkursionen zu Gipfelpunkten ist man von Alp de Fora bis zur Capanna etwa 6:15/6:30 Std. reine Gehzeit unterwegs.
(Es gibt übrigens zwei Hütten, die den Namen Buffalora tragen. Die zweite liegt auf italienischem Territorium in den Bergen über dem Comer See am Weitwanderweg Via dei Monti Lariani. In beiden Fällen deutet man den auffälligen Namen als ‚Ort, wo der Wind weht‘.)
Wer vor der ‚Königsetappe‘ des Calanca-Höhentags einen Bummeltag einlegen will, kann von der Buffalora-Hütte aus Ausflugsziele wie den nahen Laghet del Guald, einen kleinen Hochmoorsee (interessante Vegetation), oder den Grat Semid de Cassiné mit Weitblick über das Calanca-Tal besuchen – und ansonsten die Wadenmuskeln schonen.
Andererseits läßt sich offenbar auch eine lohnende Tagestour einschalten – ich bin sie selbst nicht gegangen. Sie ergibt sich aus dem Aufstieg zum Aussichtsgipfel Nomnom (2633 m; 1½ Std. von der Capanna Buffalora) und anschließender Überschreitung (reichlich 2 Std.) eines teilweise scharf geschnittenen Grats zum Piz de Groven (2693 m). Für die Rückkehr zur Hütte muß man um 3 Std. veranschlagen. Die Steige sind NICHT markiert.
Dritter Tag: Die ‚Königsetappe‘ des Calanca-Höhenwegs steht an - man ist etwa 8-9 Stunden (reine Gehzeit) unterwegs auf verwegenen Pfaden. Wer sich die fordernde Strecke durch wildes Gelände in ihrer ganzen Länge nicht zutraut oder wer von Schlechtwetter überrascht wird, kann in der Selbstversorgerhütte Rifugio Ganan, reichlich 3 Stunden von Buffalora, eine Zwischenübernachtung einlegen.
Entweder von der Buffalora-Hütte auf dem Vortagspfad wieder hinauf zum gleichnamigen Paß (ca. 30 Min.) oder auf einem etwas nördlicher verlaufenden Alternativpfad, zunächst entlang einer Wasserleitung, dann über das Pianon-Plateau (wo die erste Buffalora-Hütte stand). Nahe dem Ardion-Bach gelangt man zurück auf den Höhenweg. Weiter geht es zu den Steinhütten der Alp Calvaresc desora (2131 m; Notunterschlupf; auch Notabstieg nach Rossa im Calanca-Tal möglich). In kurzem Aufstieg zu dem in einem Felskessel mit viel Hangschotter gelegenen Seelein Lagh de Calvaresc (2214 m; 1½ Stunden von Buffalora). Über den Dragiva-Steilhang (mit etlichen ausgesetzten Stellen) erreicht man nach einer weiteren halben Stunde im Aufstieg den Steinmann auf dem Piz de Ganan (2412 m; der ‚Piz‘ ist eigentlich nur ein Grathöcker). Der folgende Wegabschnitt (‚Ganan-Weg‘) quert, zunächst leicht abschüssig, Blockwerk und eine steile, Vorsicht erfordernde Schneerinne. Über Grasbänder und Platten zum Tiefpunkt der Ganan-Mulde, dann Gegenaufstieg über einen Bach zum Rifugio Ganan (2375 m).
Es schließt sich ein besonders dramatischer Wegabschnitt von reichlich einer Stunde an. Über den luftigen Gratvorsprung Fil de Ciar (2346 m) und den Steilhang Tonella di Ciar (unangenehm tiefe Blicke in die Sohle des Calanca-Tals) geht es durch die Büscenel-Mulde zum Übergang Bocchetta di Büscenel (2157 m; kurz nach dem Übergang Abstiegsmöglichkeit in die Val Large, ein Calanca-Seitental; man käme heraus im Weiler Valbella). Im Auf und Ab über Geröllhänge und durch Blockfelder, mehrere Bäche und Rinnen querend, tastet man sich in nordöstlicher Richtung noch knapp 1½ Stunden weiter vor, dann geht es steil hinab zum Lagh de Trescolmen (2025 m), einem kleinen rundlichen See, der zwischen viel Geröll und Felsen dem von Calvaresc (s.o.) ähnelt. Ein kaskadierender Bach führt im Wasser zu. Bei der nahen Alp de Trescolmen (2015 m) zweigt rechts ein Pfad ins Misox zum Hauptort Mesocco und links ein weiterer Pfad nach Valbella im Calanca-Grund ab. Diese Ost-West-Verbindung ist für uns jedoch ebenso irrelevant wie die am Buffalora-Paß (s.o.). Ein Serpentinenaufstieg bringt uns, zuletzt unangenehm steil, zum höchsten Punkt (2514 m) des Calanca-Wegs, dem erwähnten Ostgrat der Cima de la Bedoleta, der einmal mehr prachtvolle Ausblicke bietet. Inzwischen hält man jedoch genauso gespannt Ausschau nach den illustren Dreiecksgiebeln des Bivacco Pian Grand (2398 m), den man im Abstieg über Felsstufen und Blöcke nach etwa 20 Min. erreicht - nach all dem Auf und Ab der ‚Königsetappe‘ machen die Beine nämlich entschieden darauf aufmerksam, daß sie sich für heute genug bewegt haben.
Vierter Tag: Aus unserer Gehrichtung von Süd nach Nord resultiert am letzten Tag folgende Wahl: Man kann eine reichlich vierstündige und aussichtsreichere oder - bei Schlechtwetter - eine Kurzroute einschlagen, die bereits nach drei Stunden den Ort San Bernardino (1608 m) als Endpunkt des Calanca-Höhenwegs erreicht. Ich skizziere im folgenden die längere Trasse, die über den Passo de la Cruseta führt.
Nach erstem Abstieg vom Bivacco Pian Grand gabelt sich der Calanca-Höhenweg auf etwa 2230 m Höhe. Wir halten links, wobei in der Folge ein zwar wenig ausgeprägter, aber klar markierter Pfad zu gehen ist. Er führt im Wiederaufstieg über die Bocca de Rogna (2400 m) zum Passo de la Cruseta (2455 m; großer Steinmann). Von dort in einer knappen Dreiviertelstunde hinunter zum Passit-Paß (2082 m), dem zwei nahe Bergseelein landschaftlichen Reiz verleihen. Reichlich 1½ Stunden sind wir seit dem Bivacco Pian Grand unterwegs.
(Am Paß besteht die Möglichkeit, nordwärts weiterzugehen zum Passo San Bernardino - markierter Weg, eine interessante Variante; ca. 3½ Stunden bis dort.)
Wer dem Örtchen San Bernardino zustrebt, hält rechts = ostwärts und bei Punkt 1969 m nochmals rechts. Nahe der Alp d’Ocola (1874 m; die Alpe selbst wird nicht berührt) läuft unser Pfad auf den oben erwähnten kürzeren Abstiegsweg nach San Bernardino hinaus. Problemlos weiter abwärts, zunächst durch Lärchen-, dann durch Tannenwald. Bäche, bequem auf Stegen zu queren, entwässern zum Stausee Lago d’Isola (1604 m). Nahe der Seilbahnbodenstation bzw. dem Mund des San Bernardino-Tunnels kommen wir in der ‚Auto-Zivilisation‘ heraus. Über die Moesa-Brücke ins Zentrum von San Bernardino (1608 m), das mehrere Alberghi, aber auch eine Jugendherberge besitzt.
Abgang: Busverbindung, im Sommer tagsüber fast stündlich, über Splügen nach Thusis/Bahnhof und von dort weiter mit dem Zug nach Chur (insgesamt knapp 1½ Std.) oder aber, im selben Verkehrstakt, in die Gegenrichtung nach Bellinzona (knapp 1 Busstunde).
Karten und Literatur
Am besten benutzt man die vorzüglichen Schweizer Landeskarten im Maßstab 1: 25 000, und zwar die Blätter 1254 (Hinterrhein), 1274 (Mesocco) und 1294 (Grono); ersatzweise die Landeskarten im Maßstab 1: 50 000, Blätter 267 T (San Bernardino) und 277 (Roveredo). - Die Karte Hinterrheintäler von Kümmerly + Frey, im Maßstab 1: 60 000 erfaßt zwar auf nur einem Blatt den gesamten Weg, ist aber im Wegdetail weniger genau.
Der Initiator des Calanca-Höhenwegs, Wilfried Graf, beschreibt in Bergwanderungen auf alten und neuen Wegen im Calancatal, Binningen 1996 (Selbstverlag des Autors, erhältlich gegen Banknoteneinsendung von € 15 an Wilfried Graf, Schweissbergweg 63, CH-4102 Binningen, Schweiz) die Calanca-Route von Nord nach Süd und bietet darüber hinaus zuverlässige Beschreibungen von Zugangswegen ebenso wie von Tagestouren im Tal. - Als Ergänzung für unternehmungslustige Wanderer, die sich länger im Calanca-Tal umsehen wollen, sei das Buch von Silvia Fantacci und Ueli Hintermeister: Val Calanca. 21 Wanderungen, Zürich: Rotpunkt Verlag 2002 empfohlen. - Eine knappe, bunt bebilderte Übersicht über den Höhenweg bietet das 2001 aufgelegte Faltblatt Sentiero Alpino Calanca der Associazione Sentieri Alpini Calanca (ASAC, Casella Postale, CH-6548 Rossa, Schweiz).