Wandern durch die ukrainischen Karpaten

Es gibt Menschen mit Träumen und Visionen. Günther Krämer, dem wir schöne Mitgliederwanderungen verdanken, hat Wander-Visionen, aber sie bleiben für ihn keine Luftschlösser oder Traumpfade, sondern er setzt sie Schritt für Schritt um. Seine Vision ist eine Wanderung von der Schwäbischen Alb bis in die Stadt Czernowitz in der Bukowina, heute ein Teil der Ukraine. Er hat uns schon im Dezember 2002 in Ausgabe 9 von den Erfahrungen auf früheren Etappen durch die Tschechische Republik und östliche Fortsetzungen durch Polen und die Slowakei berichtet. Für den im Jahr 2006 vorgesehenen Wegeteil von der slowakischen Grenze hinein in die ukrainischen Waldkarpaten hat Günther Krämer nach Mitwanderern gesucht.

In mehr als einer Hinsicht wurde es nun spannend. Er konnte nun nicht mehr als „Normalweg“ und großräumige Orientierung einen Europäischen Fernwanderweg benutzen. Auch sonst war die Ukraine in vieler Hinsicht eine „Terra incognita“. Ich bin der Aufforderung zum Mitwandern gefolgt. Ich war 1992 schon einmal mit meiner Frau auf eigene Faust in der Ukraine unterwegs, allerdings im Auto; ich war neugierig auf die Veränderungen.

Es gibt gute Flugverbindungen bis Košice/ Kaschau. Das ist das Zentrum der Ostslowakei und eine schöne alte, von Krieg verschont gebliebene Stadt. Unsere Wanderung begann im slowakischen Snina. Zu Fuß gingen wir über die Grenze. Das ist jetzt eine “Schengen-Außengrenze“; hier hört „Neu-Europa“ auf. Der Übergang erfolgte ohne Probleme; wir mußten zwar wegen eines Personalwechsels etwas warten, aber die Kontrollen waren harmlos. Ein Visum wird nicht benötigt. Im ersten größeren Ort konnten wir die Landeswährung aus dem Geldautomaten ziehen. Allerdings wird es mit dem Lesen schwieriger: wir waren in die kyrillische Welt gepurzelt, aber in Griechenland sind die Buchstaben ja auch anders.

Unsere Gruppe bestand aus neun deutschen Wandern; zeitweilig begleitete uns ein ukrainischer Geophysiker. Wir waren über zwei Wochen unterwegs. Es wurde für alle eine unvergeßliche, spannende Wanderung. Ich habe einige Eindrücke und Einschätzungen in dem nachfolgenden Antrag zusammengefaßt. Viele Details kann man in dem tagebuchartigen, reich bebilderten Bericht von Günther unter http://www.lustwandeln.net/ukraine06.htm und http://www.lustwandeln.net/ukrhilfen.html nachlesen und den zurückgelegten Weg auf den beigefügten Kartenausschnitten nachvollziehen und sich zum Nachwandern animieren lassen. Wer das tun will, kann bei der Beschaffung von Karten u.a. Hilfe durch Wolfo Vollands Kartenladen http://www.lustwandeln.net/ukrhilfen.html erhalten.

Wir können aus vollem Herzen sagen, man kann in diesem Teil Europas reisen und braucht keine Angst zu haben. Im Auto ist der westliche Besucher beweglicher, kann leichter touristischen Unzulänglichkeiten ausweichen. Ich habe in diesem Herbst auch die ungarisch-rumänische und die rumänisch-serbische Grenze überquert. Da kommt man in Länder, die aus der Perspektive von Westeuropa „unheimlich“ scheinen. Doch diese Länder fühlen sich als Teile von Europa und die Menschen wollen zu „uns“ gehören und sind meist ausgesprochen hilfsbereit. Eine saftige Geldstrafe kann man sich eher von der benachbarten österreichischen Verkehrspolizei einfangen.

Die Karpaten sind ein im europäischen Maßstab auffälliger Gebirgszug und bilden scheinbar einen Riegel gegen „den Osten“. Ein Wanderer macht andere Erfahrungen und kann andere Beobachtungen anstellen. Die Karpaten sind keine natürliche Grenze, es stimmt die alte Weisheit: „Hinter dem Berg wohnen auch Menschen.“ Das Gebirge ist durchlässig; es gibt vom Haupttal abzweigende fruchtbare Kessel. Die Berge sind hoch, aber nicht besonders steil. Faszinierend ist die noch weitgehend funktionierende bäuerliche Kulturwelt. Daß solche Verhältnisse eine Idylle waren oder noch sind, wäre auch für Westeuropa eine Fehleinschätzung. Die Häuser mit den schönen Gärten, die kleinen Feldern in der Nähe und die Hochweiden auf den Bergrücken sind das Ergebnis schwerer Arbeit.

Es passt dazu, daß wir an einem Sonntag eine vollen Kirche beobachteten. Sehr oft sahen wir Kruzifixe in den Hausgärten. Man konnte an der Form Vermutungen anstellen, ob die Stifter orthodox-uniert oder katholisch waren. Früher lebten auch Juden in den Marktorten und Städten. Die Menschen sehen anders aus als die Waldarbeiter und Sennerinnen auf den Sgraffitis an den in sowjetischer Zeit hergestellten Bushaltestellen.

Unvergeßlich war der gute Geist in der Gruppe; Kameradschaft bedeutet wörtlich die Kammer teilen. Das Abenteuer einer Karpatendurchquerung besteht darin, daß es keinen garantierten Komfort gibt. Aber man muß Reiseberichte aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert lesen; sie sind voll mit Klagen über die Unterkünfte. Da können wir nun mitsingen. Um so schöner sind uns die neugebauten Hotels oder Pensionen vorgekommen.

Unübersehbar ist der Aufschwung in den Städten an den Transitrouten. Ushgorod ist so eine „Überraschungsstadt.“ Das hängt auch wieder mit den historischen Konstellationen zusammen. Erst 1945 fiel die Stadt an die Sowjetunion. In den größeren Orten in den Tälern zeigt die Bausubstanz noch viel „sozialistisches Erbe“, d.h. der Besucher wird mit maßstabssprengenden und billiggebaute Wohnblocks mit vergammeltem

„Abstandsgrün“ konfrontiert. Wir schliefen mehrmals in einer „Turbasa“. Das klingt exotisch, ist aber die typisch-ostblockhafte Abkürzung von „Touristen-Basis“. Und so basishaft ist auch bis heute der Standard der in der Regel vielgeschossigen Unterkünfte, die an vernutzte FDGB-Ferienheime erinnern. Ein Erlebnis besonderer Art war das Vorbeiwandern an den gesprengten Betongebäuden einer ehemaligen Raketenbasis auf einer Heidehochebene. Es war gespenstisch; passenderweise war Nebel und Regen aufgekommen.

Mit diesen teils guten teils gemischten Erfahrungen und der Erkenntnis, dass noch viel getan werden müßte, um die Waldkarpaten zu einem „normalen“ Zielgebiet für ausländische Wanderer zu machen, hat Netzwerk Weitwandern den nachfolgend abgedruckten Antrag an die Europäische Wandervereinigung (EWV) formuliert, der aber aus verschiedenen Gründen (noch) keine Resonanz fand. Mehr über die Hintergründe in meinem Bericht von der EWV-Tagung in Budapest. Günter Krämer und ich sind uns aber einig in der Einschätzung, daß ein Weg quer durch die Waldkarpaten Zukunft haben wird. Die Landschaft ist einfach zu schön, als daß sie unbeachtet bleiben wird. Wir haben unterwegs polnische Pfadfinderinnen getroffen und tschechische Touristen. Und für die Slowaken, die Menschen der Westukraine, die Ungarn und die Rumänen ist das Habsburger Reich immer noch eine Erinnerungsklammer, da will man die Nachbarn besuchen.

 

Unsere Reisegruppe vor einer Bushaltestelle mit realsotialistischer Kunst.Wegbegeleiter für kurze Zeit ...Typisches BauernhausKarpaten-PanoramaHolzkirche von BukowzewoBäuerliches LebenFrühere Synagoge in UshgorodGespenstig: ehemalige Raketenbasis auf einer Heidehochebene
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