Wegemacherei in der Türkei: Weg-weisend oder ein Irr-weg?

Ist es möglich, ohne eine vorhandene Wanderinfrastruktur und ohne den Rückhalt mitgliederstarker und einflussreicher Wanderorganisationen einen völlig neuen Weitwanderweg zu schaffen? Ist ein derartiges Projekt auch von einem kleinen Team realisierbar oder zum Scheitern verurteilt? Grenzen und Möglichkeiten einer solchen Initiative lassen sich am Beispiel der beiden türkischen Weitwanderwege diskutieren, ohne allerdings ein abschließendes Urteil aufzeigen zu können. Innerhalb weniger Jahre entstanden in der Türkei mit dem „Lykischen Weg“ und dem „St. Paul Trail“ zwei Weitwanderwege mit insgesamt über 900 Km Gesamtstrecke. Die Existenz dieser beiden Routen ist in erster Linie dem Engagement der gebürtigen Britin Kate Clow zu verdanken. Ihre Idee, in der Türkei einen zusammenhängenden Weitwanderweg im Stil der französischen Grande Randonnées zu schaffen, bescherte Clow den ersten Platz bei einem Ideen-Wettbewerb einer türkischen Bank. Die daraus folgende finanzielle Unterstützung ermöglichte es, dass die von ihr entwickelte Route markiert und beschildert und im Jahr 1999 eröffnet werden konnte. Die Bank als Sponsor wiederum nutzte das öffentlichkeitswirksame Wegeprojekt für eigene PR-Zwecke. Die Fachpresse pries den „Lykischen Weg“ schon bald in den höchsten Tönen. Die Medienpräsenz sowie das Internet führten dazu, dass der „Lykische Weg“ in vergleichsweise kurzer Zeit einen beachtlichen Bekanntheitsgrad erlangte.

Aufgrund der positiven Resonanz beschloss Kate Clow bereits 2001, einen zweiten Weitwanderweg auszuarbeiten. Angesichts des derzeiten großen Interesses am Jakobsweg und anderer Pilgerrouten in Europa entstand der St. Paul Trail in Anlehnung an eine Reiseetappe des heiligen Paulus. Diesmal stand bei der Verwirklichung jedoch kein Sponsor zur Verfügung - stattdessen wurden alle notwendigen Arbeiten zur Markierung der Route von freiwilligen Helfern aus aller Welt durchgeführt.

Für weite Teile der türkischen Bevölkerung sind Fußmärsche nach wie vor lediglich ein notwendiges Übel, um Entfernungen zu überwinden. Eine Tradition des Wanderns als Freizeitbeschäftigung gibt es in der türkischen Bevölkerung nicht. Allenfalls in gehobenen sozialen Schichten fanden in jüngerer Zeit Wandern und Bergsteigen eine gewisse Verbreitung. Während bei uns durch eine Vielzahl regionaler Vereine bis hin zu nationalen Organisationen das Wandern bestens „organisiert“ ist, fehlt dies in der Türkei praktisch völlig. Auch wer versucht, detailliertes Kartenmaterial für seine Touren zu erhalten, wird sich schwer tun – großmaßstäbliche Karten sind in der Türkei nicht frei erhältlich.

Angesichts dieser Rahmenbedingungen war die Schaffung der beiden Weitwanderwege eine Herausforderung. Es ist erstaunlich und verdient höchste Anerkennung, was binnen weniger Jahre geschaffen wurde: 900 Kilometer markierte und beschilderte Weitwanderwege, im Eigenverlag produzierte Wanderführer in drei Sprachen, die Produktion der zugehörigen skizzenhaften Wanderkarten sowie eine Informationsplattform im Internet. Ermöglicht wurde dies durch Partner, die ihr Know-How kostenlos oder zumindest kostengünstig in das Projekt einbrachten, die finanzielle Unterstützung von Sponsoren und des türkischen Tourismusministeriums, viele freiwillige Helfer sowie den unermüdlichen Einsatz von Kate Clow selbst und ihrem Mitstreiter Terry Richardson.

Allerdings stellt nun die Erhaltung der Wege eine weitere erheblich Herausforderung dar. Damit die Pfade begehbar bleiben, müssen sie regelmäßig von Gestrüpp befreit werden. Wegmarkierungen verbleichen, verwittern oder verschwinden einfach – beispielweise dort, wo Forstwege mit dem Bulldozer verbreitert, Bäume gefällt oder Flächen bebaut werden. Insbesondere im Bereich der Orte entlang der Küste bringen steigender Wohlstand und die Modernisierung der Orte eine hohe bauliche Dynamik mit den resultierenden Veränderungen mit sich.

Bis 2004 führten Clow und Richardson die Instandhaltungsarbeiten noch alleine durch. Nachdem im Sommer 2003 die Erstmarkierung des St. Paul Trail durch eine internationale Freiwilligengruppe erfolgte, entschloss man sich, fortan derartige Freiwilligeneinsätze auch für die notwendige Instandsetzung der beiden Routen durchzuführen. Der Termin hierfür wird jeweils im Internet sowie in Zeitschriften veröffentlicht, worauf sich die Interessenten bei Kate Clow anmelden können. Die Anreise erfolgt in Eigenregie und auf eigene Kosten. Frau Clow organisiert einen Kleinbus, die Arbeitsmaterialien wie Pinsel, Farbe sowie Werkzeuge und kümmert sich um Übernachtungen und Verpflegung für die Gruppe. Um die Unkosten decken zu können, muss Kate Clow pro Helfer einen Unkostenbeitrag von 10 Euro verlangen. Darüber hinaus werden Kosten durch Sponsorengelder (v.a. von Wanderreiseveranstaltern) sowie teilweise auch aus dem Verkaufserlös der Wanderführer gedeckt.

Zu einem solchen zweiwöchigen Freiwilligeneinsatz im Herbst 2005 entlang eines Abschnitts des Lykischen Weges zwischen Patara und Finike, an dem ich teilnahm, fanden sich insgesamt sechs Helfer aus Dänemark, Deutschland, Großbritannien und Israel ein. Die Altersspanne der Teilnehmer reichte von 24 bis zu 72 Jahren und ebenso unterschiedlich waren die Motive der Teilnehmer: Für manch einen stellte die Teilnahme eine Möglichkeit dar, gewissermaßen an einer preiswerten, geführten Wanderung teilzunehmen, die zudem von Kate Clow - sozusagen als Expertin für den „Lykischen Weg“ – persönlich geführt wird. Andere Gründe für die Teilnahme waren das Kennenlernen anderer Leute, das Gruppenerlebnis sowie die sportliche Betätigung. Mehrfach genannt wurde, dass man selbst als langjähriger Wanderer durch diesen Arbeitseinsatz gewissermaßen „etwas zurückgeben“ und das Projekt der türkischen Weitwanderwege unterstützen könne. Mehrere Teilnehmer kannten den „Lykischen Weg“ bereits von früheren Reisen. Eines hatten jedoch fast alle Freiwilligen gemeinsam: keinerlei Vorerfahrung in Sachen Wegemarkierung! Lediglich eine Person hatte bereits in Großbritannien für die Ramblers' Association bei Wegearbeiten mitgeholfen.

Die Arbeiten selbst wurden stets in zwei bis drei Kleingruppen durchgeführt. Hierbei erwies es sich als schwierig, dass der exakte Wegverlauf sowie bereits vorhandene Wegmarkierungen von den Helfern teilweise erst gesucht werden mussten. Bei Zweifelsfällen wurden nach meinen Erfahrungen durch die Helfer zusätzliche Markierungen angebracht, was stellenweise zu einer Häufung der Markierungen führte. Dies kann nachkommende Wanderer verunsichern, sofern diese zusätzlich etwas abseits noch ältere Markierungen entdecken, während einige hundert Meter weiter die Abstände zwischen den Markierungen wieder deutlich größer werden. Trotz einer allgemeinen Einführung der Freiwilligen am ersten Abend, wo es bei den Markierungsarbeiten besonders ankommt, variierte die Anbringung der Symbole von Helfer zu Helfer. Nicht zuletzt die Tagesform und auch die Tageszeit hatten hier Einfluß. Bei Zeitdruck gegen Abend ließ naturgemäß die Sorgfalt nach. Ausserdem wurden – meinem Eindruck nach - die Markierungen in der Laufrichtung der Markierergruppe gründlicher ausgebessert als die Zeichen für die Gegenrichtung.

Alle Markierungen wurden auf vorhandenen Felsen, Baumstämmen, Mauern etc. angebracht. Problematisch war es dort, wo keinerlei hierfür geeigneten Gegenstände entlang des Weges vorhanden waren. Sinnvoll wäre hier evtl. das Anbringen von Holzpflöcken, doch dies kann im Rahmen der Freiwilligeneinsätze nicht geleistet werden. Ebenso können keinerlei Ausbesserungsarbeiten an den Wegen selbst durchgeführt werden.

Nach Abschluss der Arbeiten zeigten sich die Helfer überwiegend zufrieden mit Ablauf und Ergebnis. Dennoch blieben auch kritische Töne nicht aus. So würden sich einige Teilnehmer qualitativ bessere Werkzeuge wünschen und auch die Qualität der Markierungsarbeiten wird durchaus selbstkritisch als uneinheitlich eingeschätzt. Gerne hätte man auch neben der Arbeit noch etwas mehr Freizeitaktivitäten unternommen. Die Hälfte der Gruppe konnte sich allerdings vorstellen, bei einem weiteren Arbeitseinsatz teilzunehmen.

Innerhalb von zwei Wochen konnten etwa 170 Kilometer des Lykischen Wegs erneuert werden. Angenommen, man könnte pro Jahr einen Freiwilligeneinsatz organisieren und dabei jeweils die Hälfte eines der beiden Weitwanderwege kontrollieren und instandsetzen, so ergäbe diese bereits sehr optimistische Rechnung für diese Abschnitte jeweils einen Turnus von vier Jahren bis zur Erneuerung der Markierungen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass einige Bereiche entlang des Weges einem raschen Wandel unterliegen, so dass dort ein Abstand von vier Jahren für die Erneuerung der Markierungen schlichtweg zu lang ist. Aus Perspektive der Wanderer ist gerade der Zustand und die Verlässlichkeit der Markierungen bei der Beurteilung eines Weitwanderwegs ein sehr wichtiges Kriterium. Nichts ist unerfreulicher als der Zweifel am eingeschlagenen Weg oder die Suche nach der richtigen Abzweigung.

Sollte der St. Paul Trail sogar verlängert werden, wie es Kate Clow vorschwebt, dann muss man sich im Klaren darüber sein, dass sich die Situation hinsichtlich der Instandhaltung und Pflege weiter verschärfen würde. Fraglich ist generell, ob sich weiterhin genügend Freiwillige melden und die Suche nach Sponsoren zur finanziellen Unterstützung gestaltet sich bereits jetzt von Jahr zu Jahr schwieriger. Bislang trägt auch der Verkauf der eigenen Wanderführer zur Finanzierung mit bei – im deutschsprachigen Raum hat das Werk Clows jedoch bereits Konkurrenz durch einen bekannten Reisebuchverlag bekommen. (Vergl. Beitrag Lutz Heidemann in Wege & Ziele Ausgabe 19, April 2006).

Ist die immense Aufgabe der Erhaltung und Pflege der Wege also längerfristig überhaupt zu leisten, wenn sich die Arbeit auf so wenige Schultern verteilt? Bleiben die beiden Wanderwege für die einheimische Bevölkerung etwas „Fremdes“, da es ja ausschließlich „Fremde“ sind, die sich um seinen Erhalt kümmern? Wird man sich bei der Unterhaltung eines Tages womöglich auf die besonders attraktiven und beliebten Wegabschnitte beschränken (müssen)? Schon heute kristallisieren sich Etappen heraus, die sowohl bei Individualwanderern als auch bei Tourenveranstaltern besonders hoch im Kurs liegen. Werden andere Wegabschnitte verwildern und in Vergessenheit geraten – ein Schicksal, das bereits viele andere Weitwanderweg-Projekte ereilte?

Wie sich „Lykischer Weg“ und „St. Paul Trail“ in den kommenden Jahren entwickeln werden bleibt abzuwarten. Wünschenswert wäre in jedem Fall, daß die Weitwanderwege in der Türkei vor Ort mehr Unterstützung fänden und auf eine breitere Basis gestellt werden könnten. Denkbar wäre beispielsweise eine Beteiligung von Organisationen vor Ort, wie etwa dem türkischen Bergsteigerverein TODOSK in Antalya, der Pflege von Wegen jedoch bislang nicht als eine seiner Aufgaben ansieht. Auch seitens des Tourismusministeriums wäre eine dauerhafte Unterstützung angebracht – schließlich taucht der „Lykische Weg“ nun auch in offiziellen Prospekten auf und dürfte das Image der Türkei als Ziel für den Wandertourismus in den letzten Jahren deutlich gestärkt haben. Wichtig wäre eine dauerhafte und verlässliche Unterstützung anstelle des meist einmaligen, punktuellen Engagements der bisherigen Sponsoren, um auch längerfristig planen zu können. Nach offiziellen Aussagen der Regierung möchte man das Tourismusangebot ohnehin diversifizieren und unter anderem hierbei auch den Wander- und Trekkingtourismus stärken. Anspruch und Wirklichkeit scheinen jedoch in diesem Punkt noch auseinander zu klaffen.

 

Die Verbindung von Weitwandern und Baden ist faszinierendDer Lykische Weg gleicht stellenweise dem Spaziergang durch einen archäologischen ParkHandarbeit und TeamworkSeeleute brachen Leuchttürme, Wanderer brau-chen Markierungen. Dieser Leuchtturm markiert auch eine schöne Etappe.Ankämpfen gegen das Zuwachsen
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