Weitwandern in Osttirol

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 Vielleicht erinnern sich manche noch an den letzten „blauen“ Weitwanderer mit dem Schwerpunkt-Thema „Osttirol und Kärnten“. Dort hatte ich eine vier Wanderwochen füllende Route „Rund um Osttirol“ skizziert, rund um jenes österreichisch gebliebene östliche Anhängsel Südtirols also, dessen Bezirkshauptstadt Lienz jederzeit einen Besuch wert ist. Ich will mich hier nicht wiederholen, im Gegenteil, diese Route hat durchaus Schattenseiten. Nicht immer kann man problemlos Osttirols Grenzen folgen; vor allem im Westen, im Gebiet der Villgrater (oder Deferegger) Berge und der Rieserfernergruppe mangelt es sowohl an Übernachtungsmöglichkeiten als auch an Weganlagen, zudem müssen längere Passagen auf Asphalt bzw. im Tal in Kauf genommen werden. Aber die ungemein abwechslungsreichen Bergkämme Osttirols, die auf engem Raum so ziemlich alle Landschaftstypen der österreichischen Alpen aufweisen, sind für mehrtägige Höhenwanderungen geradezu prädestiniert. Wobei die Anforderungen fast ebenso vielfältig sind wie die Landschaftsbilder.

Die Lienzer Dolomiten sind – was Einheimische begreiflicherweise nicht so gern hören – keine „echten“ Dolomiten, sondern gehören geologisch zu den Nördlichen Kalkalpen; der Bergstock dieser „Dolomiten“ hat ganz einfach die Verschiebung nach Norden nicht mitgemacht. Somit fühlt man sich eher an die Nördlichen Kalkalpen erinnert – ein bisschen Karwendel, ein bisschen Wilder Kaiser. Kletterer nehmen oft weite Anfahrten auf sich, um die zahllosen Routen rund um die Karlsbader Hütte anzugehen, und das will in Österreich viel heißen; ich habe dort z. B. einen Bergführer aus Kitzbühl mit zwei Gästen getroffen – dabei hat Kitzbühl den Wilden Kaiser fast vor der Haustür! Die Zugänge zu den Routen sind kurz, der Fels ist großteils gut, und vor allem sind diese Berge witterungsmäßig begünstigt; viele Regenwolken bleiben entweder an den höheren Bergen der Umgebung hängen. Im Gegensatz zu den Dreitausendern der Tauern und der italienischen Dolomiten erreicht die Große Sandspitze, höchster Gipfel der Lienzer Dolomiten gerade 2770 m; somit verschwindet der Schnee hier viel früher als in der nördlich von Lienz aufragenden Schobergruppe.

Aber auch trittsichere Wanderer kommen hier auf ihre Kosten. Und wie! Am besten startet man am Bahnhaltepunkt Nikolsdorf, zwei Stationen östlich von Lienz, und steigt auf dem wilden, abenteuerlichen „Zabarotsteig“ mit seinen 16 Leitern durch eine nicht enden wollende Fels durchsetzte Steilflanke zum Hochstadelhaus des ÖTK bzw. zur privaten Kalser Hütte auf, wobei man sogar sein Gepäck transportieren lassen könnte. Was in diesem Fall zu überlegen wäre, denn 1250 Höhenmeter im Steilgelände sind nicht ohne, zumal am ersten Wandertag. Wenn irgend möglich, besteigt man den Hochstadel (2679 m), den östlichsten Hochgipfel der Lienzer mit sensationellem Blick besonders nach Osten (auch der Weißensee ist sichtbar) und ins 2000 m tiefer gelegene Drautal; der normale Weg erfordert bei gutem Wetter nicht einmal besondere Trittsicherheit. Dann geht es auf dem spektakulären, abwechslungsreichen „Dreitörlweg“ zur Karlsbader Hütte des DAV und vielleicht, wegen des dortigen Massenandrangs, am selben Tag noch weiter zum Kerschbaumeralm-Schutzhaus (ÖTK). Wer in der chronisch überfüllten Karlsbader Hütte noch ein Plätzchen findet, sollte sich die durch einen gerölligen Steig erschlossene Laserzwand (2614 m) nicht entgehen lassen; dagegen dürfte der Hausberg der Kerschbaumeralm, der von fast allen Straßen von Lienz aus sichtbare Spitzkofel (2713 m), für viele Wanderer etwas zu anspruchsvoll sein. Der Weiterweg führt hinauf zu Kühboden- und Hallebachtörl, somit noch einmal in über 2440 m Höhe, und jenseits ein langes, wildes Tal hinab zurück zur Drau, die man bei der Luggauer Brücke erreicht (Bus, Bahn oder Taxi nach Lienz, unbedingt vorher organisieren!).

Wie der Name andeutet, hat man bei diesem Abstieg zuletzt einen Jahrhunderte alten Wallfahrerweg vom Drautal nach Maria Luggau im Lesachtal benutzt, dem man natürlich auch nach Maria Luggau folgen könnte, um noch zwei Tage anzuhängen und auf dem „Gailtaler Höhenweg“ den immer sanfteren Lienzer Dolomiten weiter nach Westen zu folgen. Vorteil: Herrliche Aussichtspunkte und wenig Besucher, wenn man von der Umgebung der architektonisch – sagen wir mal: fragwürdigen – Connyalm (Sessellift ab Obertilliach) absieht. Nachteil: Außer in der Connyalm gibt es auf der Höhe keine Übernachtungsmöglichkeit; man kann allerdings auch in das immerhin noch 1450 m hoch gelegene Obertilliach mit seinem mit vollem Recht unter Denkmalschutz stehenden Ortskern absteigen und ein Quartier suchen. Nach der Überschreitung des völlig harmlosen, aber immer noch 2317 m hohen Golzentipp (prächtiger Aussichtspunkt) gelangt man nach nochmaligem langem Abstieg nach Sillian, von wo die Rückfahrt nach Lienz aufgrund der guten Bahnverbindungen kein Problem darstellt.

Die Lienzer Dolomiten sind somit ein wunderbares, nicht überlaufenes und landschaftlich sehr abwechslungsreiches Wanderrevier, das sich jedem trittsicheren Bergwanderer anbietet. Allerdings sollten in den oft steilen Geröllhängen keine Schneereste mehr vorhanden sein, was in der Regel aber schon Anfang, spätestens Mitte Juli der Fall ist.

Der am österreichisch-italienischen Grenzkamm verlaufende Karnische Höhenweg ist sicher kein Geheimtipp mehr. Der landschaftliche Abwechslungsreichtum auf der jeweils zur Hälfte in Kärnten und Osttirol verlaufenden, eine Woche erfordernden Route von Sillian zur Plöckenpassstraße ist kaum zu überbieten, aber das hat sich inzwischen herumgesprochen, weswegen die zu klein konzipierten Hütten oft voll belegt sind. Ohne Voranmeldung sollte man dort in der Hauptsaison nicht gehen. Eine nähere Beschreibung dieser Tour, die auch Teilstück des österreichischen Südalpenwegs 03 ist, erübrigt sich hier meines Erachtens. Wer genauere Informationen wünscht, kann sich gerne per E-Mail an mich wenden (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!).

Zwischen dem oberen Drautal, wie sein Südtiroler Pendant auch Pustertal genannt, und dem Defereggental trifft man auf einen nicht übermäßig spektakulären, wegen seiner prachtvollen Sicht auf Hohe Tauern und Dolomiten bei Wanderern jedoch recht beliebten Villgrater Berge oder Deferegger Alpen. Sie werden noch zu den Hohen Tauern gerechnet, allerdings fehlen hier sowohl Dreitausender als auch Gletscher. Da die Bergformen nicht übermäßig wild sind, bieten sich zahlreiche Gipfel auch für Bergwanderer an. Eine Durchquerung ist dagegen nicht ganz unkompliziert. Dies aber eher in organisatorischer als in bergsteigerischer Hinsicht.

Zwar findet man direkt oberhalb von Lienz auf 2020 m Höhe und somit 1300 m über der Stadt das sehr aussichtsreich gelegene Hochsteinhaus. Eine Mautstraße führt bis 10 Minuten unterhalb der Hütte, von der Sessellift-Station Sternalm ist man in knapp eineinhalb Stunden oben, zudem ist der Hüttengipfel, das Böse Weibele, ein Zweieinhalbtausender der wirklich harmlosen Sorte und auch für kleinere Kinder geeignet, dabei überaus dankbar. Kein Wunder also, dass es hier oben tagsüber nicht gerade einsam ist. Aber als Ausgangspunkt für mehrtägige Touren eignet sich das Hochsteinhaus kaum. Zwar ist in den letzten Jahren der so genannte Pustertaler Almweg angelegt worden, der eine herrliche Höhenwanderung ermöglicht – man bewegt sich stundenlang ohne große Höhenunterschiede immer in der Nähe der Waldgrenze. Aber die Gölbnerblickhütte, die man evtl. in einer langen Tagesetappe erreichen könnte, bietet leider nur eine große Ferienwohnung mit ca. zehn Betten an – wenn die belegt ist, hat der Weitwanderer Pech gehabt!

Aber es geht hier auch anders: Aufstieg vom vorderen Defereggental zur privaten Bloshütte (mehrere Wege bieten sich dabei an, die teilweise sehenswerte Almen berühren), Übergang zur ebenfalls privaten Volkzeiner Hütte, weiter zum unter Denkmalschutz stehenden Almdorf der Oberstaller Alm und hinab nach Innervillgraten (in der Unterstalleralm besteht keine Übernachtungsmöglichkeit mehr, allenfalls in einer der Almhütten der Umgebung, die als Ferienhäuser vermietet werden). Bei dieser Tour sollte man sich Zeit für Gipfelabstecher lassen. Hausberg der Bloshütte ist der Große Regenstein, 2891 m hoch, von der Volkzeiner Hütte bieten sich Großes Degenhorn (2946 m) und Hochgrabe (2951 m) an; das Degenhorn wird gern als Tagestour vom Defreggental aus angegangen, wobei man dank der Bergbahnen von St. Jakob auf 2360 m startet. Mit anderen Worten: Am Degenhorn und am wunderschönen Degensee muss man mit einigem Betrieb rechnen.

In Innervillgraten sollte man einen Ruhetag in Erwägung ziehen, denn die Schlussetappe hat es in sich. Der Aufstieg aus dem Tal nach Bad Kalkstein (1640 ), wo man im Gasthof übernachten könnte, und weiter zum Toblacher Pfannhorn (2663 m), zieht sich mächtig in die Länge. Dafür öffnet sich am Gipfel ein Panoramablick auf große Teile der Dolomiten, der seinesgleichen sucht.

Auch der Abstieg geht in die Knie, zumal die vor dem Ersten Weltkrieg erbaute Bonner Hütte nicht mehr zu benutzen ist. Endpunkt dieser Durchquerung ist Toblach, wo der Komponist Gustav Mahler (1860-1911) – nach meiner Meinung einer der bedeutendsten und faszinierendsten Komponisten nach Beethoven überhaupt – seine letzten drei Sommerurlaube verbrachte und seine letzten großen Werke, das „Lied von der Erde“, die Sinfonie Nr. 9 und das Adagio der Zehnten, schrieb. Jeden Sommer finden hier Konzerte mit international renommierten Interpreten statt, sein Urlaubsdomizil in Alt-Schluderbach ist zu besichtigen (leider nur samstagvormittags) und eine Mahler-Sinfonie in dieser Umgebung und nach einer solchen Prachttour ist sicher ein noch eindringlicheres Erlebnis als im Konzertsaal zu Hause.

Über die übrigen Höhenwanderungen ist schon so viel geschrieben worden, dass ich mich kürzer fassen kann. Die Süd-Nord-Durchquerung der Schobergruppe, deren Gipfel bis fast 3300 m aufragen, beginnt auf der Passhöhe Iselsberg oder bei der Raneralm (bis dorthin Fahrmöglichkeit), so dass man in vier Tagen von Lienz bis zum Fuß des Großglockners wandern kann. Die Route: Raneralm – Wangenitzseehütte (für hochalpin Geübte Möglichkeit, das Petzeck, 3283 m, zu besteigen!) – Lienzer Hütte – Elberfelder Hütte – Böses Weibel (3123 m) – Lucknerhaus. Von dort am Nachmittag Bus zurück nach Lienz. Unterwegs viel Schutt (die Schobergruppe wird zuweilen auch abfällig Schottergruppe genannt!), erst im August ratsam und keinesfalls in schneereichen Sommern.

Südlich des Virgentals verläuft der Lasörling-Höhenweg, im Ostteil eine ideale Tour für Familien mit Kindern ab ca. 10 Jahren. Die Wanderung von Matrei in Osttirol zur Zunigalm und weiter über die Zupalseehütte zur Lasörlinghütte steigt zwar bis auf 2500 m Höhe an, gilt aber bei guten Verhältnissen (freilich nur dann!) als ungefährlich. Ständig wird man durch Prachtblicke auf die im Norden aufragende Venedigergruppe verwöhnt. Wenn irgend möglich, sollte man sich eine Besteigung des 3099 m hohen, völlig isoliert stehenden Lasörling nicht entgehen lassen. Die nächste Etappe zur Neuen Reichenberger Hütte führt in größere Höhen und ist deutlich anspruchsvoller und auch anstrengender. Und auch die Schlussstrecke ins Umbaltal (für Hungrige und Durstige Abstecher zur Clarahütte möglich!) und über den Wasserschaupfad an den Umbalfällen vorbei nach Ströden (Bus zurück nach Matrei) sollte im ersten Teil nicht unterschätzt werden.

Von der Neuen Reichenberger Hütte an ist der Lasörling- Höhenweg identisch mit dem Venediger-Höhenweg. Der ist so bekannt, dass er hier auch nur in Stichworten dargestellt werden soll. In der skizzierten Richtung ist er vielleicht empfehlenswerter als umgekehrt, weil der anspruchsvollste Abschnitt zwischen Badener und Bonn-Matreier Hütte im Aufstieg begangen wird: eine 600 m hohe, nordseitige Steilflanke in überaus rutschigem Gelände, oft über Altschneefelder, die absolute Trittsicherheit, Schwindelfreiheit, große hochalpine Erfahrung und allerbeste Verhältnisse erfordert. Unbedingt nach den aktuellen Wegverhältnissen erkundigen, der Weg muss meistens zu Saisonbeginn neu angelegt werden!

Die Strecke: Matreier Tauernhaus (Bus ab Matrei) – St. Pöltener Hütte – Alte bzw. Neue Prager Hütte – Badener Hütte (hierher auch direkt und sehr schön ab Innergschlöß) – Bonn-Matreier Hütte – Eisseehütte – Neue Sajathütte – Johannishütte (Abstecher zum Defereggenhaus möglich und sehr lohnend!) – Essener-Rostocker Hütte – Ströden (Bus nach Matrei), evtl. weiter über Clarahütte (direkter Übergang ab Essener-Rostocker Hütte weglos und höchst spärlich markiert, nur Ortskundigen zu empfehlen!) – Neue Reichenberger Hütte – St. Jakob in Defereggen. Dauer: 6-8 Tage. Höhepunkt dieser Route ist sicher eine Besteigung des Großvenedigers selbst, nur sollte man dafür in der Neuen Prager Hütte bzw. im Defreggerhaus unbedingt einen Bergführer engagieren; alle Routen zum 3666 m hohen Gipfel führen über gewaltige Gletscher mit großer Spaltengefahr.

Bliebe noch die etwas abseitige Kreuzeckgruppe, die man nicht in zwei Absätzen abhandeln sollte.

Die Kreuzeckgruppe – vergessenes Hochgebirge in Osttirol und Kärnten

Noch weniger kann ein Gebirge, aus der Ferne betrachtet, nicht hergeben als die Kreuzeckgruppe, den Hohen Tauern zugehörig, aber durch das Mölltal von diesen getrennt und nicht einmal 2800 m erreichend. Runde, unten grüne, oben graubraune Berge, ein Gipfel nahezu wie der andere. Ein aus den Nähten geplatztes Mittelgebirge sozusagen. Und ausgerechnet dort soll man wandern? Wo es doch in der Umgebung so wunderschöne, ungleich spektakulärere Berge gibt, Hohe Tauern, Lienzer Dolomiten, Karnischer Hauptkamm, die „echten“ Dolomiten nicht zu vergessen! Und dann soll man auch noch tagelang in dieser unscheinbaren Kreuzeckgruppe unterwegs sein? Nein danke!

Mit dieser spontanen Reaktion wäre man nicht alleine. Alleine ist man dagegen oft, wenn man sich tatsächlich mal in diese Region verirrt. Immerhin kann sie mit einer Empfehlung aufwarten: Ein britischer Bergsteiger verglich sie im 19. Jahrhundert mit dem Schottischen Hochland, und der wusste sicher, wovon er sprach.

Noch ein Vorteil: Die gesamte Kreuzeckgruppe ist auf dem Kreuzeck-Höhenweg zu durchqueren, immer nördlich der Drau, wobei man in Lienz startet und am Bahnhof Sachsenburg-Möllbrücke oder in Kolbnitz wieder das Tal erreicht. Oder natürlich umgekehrt, nur ist der Aufstieg ab Sachsenburg-Möllbrücke zur ersten Hütte sehr langwierig, während einem ab Kolbnitz immerhin die Kreuzeck-Bahn (Schrägaufzug) einige Hundert Höhenmeter abnimmt. Wir zogen die West-Ost-Richtung vor, weil wir in meinem geliebten Lienz gemütlich zu Mittag essen und noch ein wenig durch die Stadt bummeln wollten. Erst im Lauf des Nachmittags ließen wir uns mit dem Taxi zum Zwischenberger Sattel chauffieren.

Natürlich ginge es auch asketischer, aber von der Straße über den Iselsberg müsste man zuerst eine Asphaltstraße und später einen geschotterten Fahrweg begehen, gut und gerne eineinhalb Stunden lang. Wen das nicht stört, der mag die Taxikosten sparen und sich immerhin am ständigen Blick auf das Lienzer Talbecken und die optisch allgegenwärtigen Lienzer Dolomiten erfreuen.

Ab Zwischenberger Sattel führt ein schöner Waldweg zu Beginn ziemlich, später weniger steil zu einer kleinen Alm (hübscher Rastplatz) und weiter zum Anna-Schutzhaus (1991 m), vom Charakter eher mit einem Wanderpfad im Mittelgebirge zu vergleichen; ich kenne in den Vogesen viele Wege, die ungleich wilder sind. Zehn Gehminuten oberhalb der Hütte und über der Waldgrenze steht das riesige „Heimkehrerkreuz“ auf dem Ederplan (man beachte die sprachliche Feinheit in Österreich, wo man von „Heldenfriedhöfen“ und „Heimkehrerkreuzen“ spricht!), und ein Bummel auf diese ungemein aussichtsreiche sanfte Graskuppe, die auch wieder an den Schwarzwald oder die Vogesen erinnert, bedeutet sicher den Höhepunkt dieses ersten Wandertages – wenn denn der Aufstieg zu der ausgesprochen gut bewirtschafteten ÖTK-Hütte überhaupt als Wanderung zu bezeichnen ist. Ja, gut bewirtschaftet ist das Anna-Schutzhaus, und beim Frühstück konnten wir zwischen Marmeladenbrot, Müsli und Rühreiern mit Schinken wählen – auf welcher Hütte gibt es das sonst noch! Außer meinem Begleiter und mir übernachtete in dieser Nacht noch ein Ehepaar aus Klagenfurt oben – das war alles. Und das zur Hauptsaison in Österreich!

Der erste „echte“ Wandertag führte uns dann nachdrücklich vor Augen, dass die Kreuzeckgruppe eben doch als Hochgebirge anzusehen ist. Vielleicht noch nicht in der ersten Wanderstunde, einem durch Bergwiesen und anfangs noch kleine Wäldchen führenden Handweg 1300 m über dem Drautal, den ich als Traumstrecke bezeichnen möchte. Aber danach wird die Route zunehmend blockig und quert etwas rutschige Schotterhänge, wo man schon ein wenig aufpassen muss. Erster Höhepunkt der Etappe ist die Gipfelrast auf dem Ziethenkopf (2484 m), wo man auf die schon weit entfernten Lienzer Dolomiten zurückblickt, dann geht es zum schön in den Bergwiesen gelegenen Feldsee hinunter und jenseits wieder kräftig bergauf…

Man erkennt aus dieser Beschreibung, dass Höhenwege in der Kreuzeckgruppe wegen des ständigen Bergauf-Bergab schon einige Anforderungen an die Kondition stellen. An das Orientierungsvermögen auch, erst recht bei Nebel, denn der Weg ist zwar vorzüglich und auch neu markiert, verliert sich aber wiederholt in den Wiesen, wo man sich von Farbklecks zu Farbklecks vorarbeiten muss. Später, als wir uns mental schon auf das Etappenziel Hugo-Gerbers-Hütte einstellen wollten, galt es plötzlich auf schmaler Spur einen sicher mehrere hundert Meter abfallenden steilen Grashang zu queren – wehe, wenn man hier bei Nässe unterwegs ist! Und zuletzt wurden die von weitem so unscheinbaren und sanften Kreuzeckberge richtig ungemütlich, denn die Hänge sind, wie wir erkennen mussten, oft steil und von Schutt- und Schrofengelände durchzogen, weswegen der Pfad ständig irgendwelchen Hindernissen ausweichen muss und immer wieder steigt und fällt. Nach sieben Gehstunden erreichten wir endlich die Hugo-Gerbers-Hütte (2374 m). Für diesen Tag reichte es uns.

Auch dieses Hüttchen verdient eine besondere Würdigung. Außer uns übernachteten noch neun Personen, es gibt kein fließendes Wasser, sondern man muss sich an einem 100 m entfernten Bach waschen. Aber der Hüttenwirt zaubert ein einzigartiges Frühstücksmüsli hin. Überhaupt, dieser Wirt! Ein Original, eine Art Aussteiger, der sich in den Sommermonaten in die Abgeschiedenheit zurückzieht. Viel Geld ist in der Hugo-Gerbers-Hütte wahrlich nicht zu verdienen, und es überrascht nicht, dass sie bis vor wenigen Jahren Selbstversorgernütte war, sicher auch, weil sich kein Pächter fand. (Ein ähnliches Schicksal widerfuhr vor einigen Jahren, wenngleich nur einen Sommer lang, der Adolf-Noßberger-Hütte in der Schobergruppe – und da sage einer, in den österreichischen Alpen gebe es keine Einsamkeit!)

Der dritte Tag sollte unser letzter in der Kreuzeckgruppe werden. Leider – denn das Wetter schlug um. Schon am Morgen war der Hauptkamm, über den der Kreuzeck-Höhenweg zur Feldner Hütte führt, wolkenverhangen, was Orientierungsprobleme versprach. Zudem weist die Überschreitung des Hochkreuz (2709 m) einige ausgesetztere Stellen auf, im obligatorischen Schuttgelände, versteht sich. Schade – denn ab Feldner Hütte hätte man die Wahl zwischen gleich zwei weiter führenden Höhenwegen, dem eigentlichen Kreuzeck-Höhenweg, der über den höchsten Gipfel der Gruppe, den 2784 m hohen Polinik (Polinik ist slawisch und bedeutet „Mittagskofel“, es gibt auch einen Polinik in den Karnischen Alpen bei Kötschach-Mauthen), zur Polinikhütte und hinab ins Mölltal führt – eine gewaltige Höhenunterschiede überwindende, 10-12 Stunden erfordernde Route, die uns sicher eine Nummer zu groß gewesen wäre, und dem Heinrich-Hecht-Weg zur Salzkofelhütte, den wir ursprünglich gehen wollten, um nach nochmaliger Übernachtung den exponiert stehenden, mit fabelhafter Aussicht über das Gebiet des Millstätter Sees aufwartenden Salzkofel zu besteigen und danach den langen Abstieg nach Sachsenburg-Möllbrücke in Angriff zu nehmen. Ja, wenn das Wetter mitgespielt hätte!

Aber immerhin bescherte uns unser „Notabstieg“ noch einen tollen Gipfel, den Gäste der Hugo-Gerbers-Hütte eigentlich nicht auslassen sollten, wenngleich man dann zweimal in dem doch etwas einfachen Hüttchen nächtigen müsste: den Scharnik. Der ist unbedingt einen zusätzlichen Tag wert. Um dorthin zu gelangen, hatten wir zunächst eine längere Höhenwanderung in absoluter Einsamkeit zu absolvieren, einen wirklich herrlichen Weg mit ständiger Sicht auf das gewaltige Massiv von Kellerwand und Hoher Warte, den höchsten Erhebungen der Karnischen Alpen, weit im Süden. Zuletzt wartete noch ein blockiger Aufstieg auf uns, dann konnten wir direkt unter dem Gipfelkreuz des Scharnik, immerhin 2658 m hoch, auf einer Bank Platz nehmen. Wer sich dort ausruht, sollte allerdings schon etwas schwindelfrei sein: Buchstäblich zu Füßen des Sitzenden bricht die brüchige, haltlose Steilflanke ab, tief hinunter. Das Drautal liegt volle 2000 m unterhalb des Gipfels! Von der viel gelobten Fernsicht auf Karnische und Julische Alpen bekamen wir leider nicht mehr viel mit; die Wolken wurden immer dichter und zahlreicher und es war deutlich, dass unser Entschluss, die Durchquerung der Kreuzeckgruppe abzubrechen, richtig gewesen war.

Über den elend langen Abstieg nach Irschen im Drautal würde ich dagegen am liebsten den Mantel des Vergessens breiten. Mindestens zwei Drittel verlaufen auf einem nicht enden wollenden Schottersträßchen. Zum Glück holte uns gleich zu Beginn dieses Hatschers ein PKW von Almnutzern ein, wir hoben den Daumen und wurden mitgenommen. Andernfalls müsste man vom Scharnik nach Irschen gut und gerne vier Stunden rechnen, ohne Einkehrmöglichkeit unterwegs, versteht sich. Die Kreuzeckgruppe ist eben nicht mit anderen Alpengruppen zu vergleichen. Aber wenn das kein Grund ist, ihr die Aufwartung zu machen!

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