Geschichte mit Füßen treten

dasgesichtdeutschlands
Das Gesicht Deutschlands – unsere Landschaften und ihre Geschichte
Bernd-Jürgen Seitz
Deutsch
2017
1
240
23,1
2,9
29,9
3806235821
978-3-8062-3582-1

Wenn man in England eine Burg oder eines der vielen historischen Herrenhäuser besucht, mischen sich bisweilen kostümierte Menschen unter die Gäste und plaudern, als wären sie die Hausherren oder deren Personal. „Reenact ment“ - das Verkleiden und Nachspielen auch durch Nicht-Schauspieler -, hat Konjunktur, ganze Schlachten werden heute an Wochenenden noch einmal geschlagen; Ritter oder Burgfräulein sind andere beliebte Rollen, gleichermaßen Wikinger; die Zuschauer nehmen das mit Sympathie zur Kenntnis. Über weite Strecken zu Fuß gehen, wo doch fast jeder ein Auto besitzt, hat auch Züge von Reenactment, einem (modern verkleideten) Sich-Hinein-Begeben in andere Welten und Zeiten. Aber andersartig ist der aktive und individuelle Ansatz: Weitwanderer sitzen nicht in einem Bus, der sie durch eine Landschaft fährt oder durch eine Stadt, wo ein Führer auf die vorbeigleitenden Sehenswürdigkeiten aufmerksam macht. Nein, in der Regel ist jeder Weitwanderer selbst für seine Zwischenziele und das Aufsuchen und Verstehen von Sehenswürdigkeiten am Weg verantwortlich. Wenn nur wenig passiert, kann das auf einigen Strecken vielleicht sogar langweilig werden und andererseits sind Gebirgspfade sehr anstrengend. Wanderer fanden zwar den „Ötzi“, das wird sich so nicht wiederholen oder lässt zumindest nicht einplanen. Werbebroschüren schreiben von „Entdecken“, das ist kalter Kaffee. Wenn man die Augen offen hält, kann man „hinter Kulissen sehen“, begreift das Außergewöhnliche durch das Bescheidenere oder schon Verhunzte daneben.

Die oft zitierte Weisheit, man sieht nur das, was man weiß, ist goldrichtig. Wir Weitwanderer vermögen „Geschichte“ zu sehen oder mit anderen Worten: „Das Gesicht Deutschlands“. So heißt dieses Buch unseres Vereinsmitglieds Bernd-Jürgen Seitz, das den Untertitel trägt „Unsere Landschaften und ihre Geschichte“. Ich kann es nur empfehlen. Es besticht schon auf den ersten Blick durch schöne Fotos und sehr didaktische Karten und Grafiken. Man sollte sich einlesen, doch das Buch ist auch so geschickt gemacht, dass man es überall aufschlagen kann und auf interessante Details stößt und dranbleibt. Seitz klärt Fachbegriffe und fängt mit einem Gang durch die „geologische Geschichte“ an, den vielen Jahrmillionen ohne Anwesenheit von Menschen. In der Landschaft zeugen davon Spuren von schrecklichen Katastrophen, von dauernden Überschwemmungen, von Hitzephasen und Vulkanausbrüchen, von Erdbeben, die durch das „Wandern“ und Zerbrechen ganzer Kontinente ausgelösten wurden und vom Aussterben ganzer Tier- und Pflanzenfamilien begleitet waren.

Diese „geologische Geschichte“ ist noch nicht am Ende, Vulkane brechen noch immer aus, der Grabenbruch am Oberrhein wächst noch, selbst wenn es in zehn Jahren nur ein Millimeter ist. Geologen denken in hunderttausend oder Millionen Jahren, das wären in 50.000 Jahren etwa 50 Meter, ein tiefer Riss. Spuren solcher „Geschichte“ haben wir Netzwerk-Weitwanderer z. B. in der Eifel an verschiedenen Kraterseen, inzwischen wurden das idyllische „Maare“, beobachten können oder in der weiteren Umgebung von Kassel, wo kleine Vulkankegel mit einem harten Basaltkern das Landschaftsbild prägen, nur steigt dort kein Rauch mehr auf. Die ständige Gegenwart von solchen Geschichts - kräften konnten wir uns im Donautal verdeutlichen, als wir die Marken von Hochwasser noch aus jüngster Zeit beobachteten oder als uns im Schwarzwald der Weg durch tiefeingeschnittene Schluchten führte, wo die bloßgelegten Gesteinsschichten wie auf Buchseiten sichtbar waren.

Bernd-Jürgen Seitz macht dann einen Schnelldurchgang durch die „historischen Landschaften“ und verweist auf ablesbare Spuren, die Menschen in der Landschaft hinter lassen haben. Das geschah in sehr unterschiedlichen Phasen: Als über viele Jahrhunderte dickes Eis große Teile von Norddeutschland bedeckten, lebten hier auch schon Menschen. Sie prägten nicht die Landschaft, sie überlebten aber in diesen extrem schwierigen Verhältnissen, wie wir aus Spuren ihrer Anwesenheit erkennen können. Letztlich sollte uns das Mut machen, dass auch zukünftige schwierige Lebensverhältnisse nicht zwingend zu einem Aussterben der Menschen führen werden, Wanderfähigkeiten wären allerdings gefragt.

Der Autor hat die jüngsten Erkenntnisse der Geologie über anschauliche Kartenfolgen für uns Leser ausgebreitet. Durch Kontinentalverschiebungen wird erklärlich, dass das Maar in der Eifel Ruhrgebiet mit seinen Steinkohlenvorräten einmal in Äquatornähe lag, wo die Wärme so stark war, dass aus den üppigen Wäldern abbauwürdige Steinkohleflöze wurden. Seitz greift das didaktische Mittel der Erdgeschichtszeit als 24-Stunden-Tag auf. Die Erdfrühzeit, das Präkambrium nähme dann 21 Stunden ein, aber erste Mikroorganismen gab es schon kurz nach 4 Uhr morgens, die Kreidezeit begann 23.40 Uhr. Als im Jungtertiär („Miozän“) die großen Braunkohle-Ablagerungen am Niederrhein entstanden, Seitz vergleicht das mit Sumpfwäldern wie sie heute im Mississippi-Delta existieren, geschah das zwischen 23.53 und 23.58 Uhr der „Erdzeit“. Anschließend, zwischen 23.58 und 23.59 Uhr, hatten sich die Küstenkonturen Europas schon heutigen Verhältnissen angeglichen, aber das Quellgebiet des Rheins lag ungefähr am Kaiserstuhl und die Donau entsprang im Alpenraum und erste „Vormenschen“ lebten in Afrika.

Seitz hat viele Fakten z. B. aus Biologie, Archäologie und Geschichte zu einem lebhaft-lesbaren Text verarbeitet. Er relativiert romantische Vorstellungen von Natur. Nicht nur fressen die großen Fische die kleinen, es gibt auch unter Pflanzen subtile Rivalitäten. Buchen, die uns so „ewig deutsch“ vorkommen, sind erst vor etwa 7.000 Jahre in Mitteleuropa eingewandert. Kiefern wuchsen hier schon viel länger. Ein Foto zeigt, wie z.B. Buchen die Kiefern „wegdrücken“. Menschen führten neue Pflanzen und neue landwirtschaftliche Methoden ein. Klöster oder Adel hinterließen spezifische Spuren. Der Kartoffel-Anbau veränderte die Landschaft, weil jetzt auch nährstoffarme Sandböden, oft Heideland, dem Ackerbau zugeführte wurden. Maschinen einsatz, in der Regel Traktoren, hatten Einfluss auf Fruchtfolgen und die Ernährung von Menschen und Tier, was sich auch im Landschaftsbild ausdrückt. Ein dritter Durchgang führt durch die verschiedenen Bundesländer, schildert ihre charakteristischsten Landschaftsräume. Es kommt beim Lesen zu Aha-Erlebnissen und Vertiefungen von eigenen Erfahrungen und einer Versachlichung von aktuellen Konflikten. Begriffe wie „Verspargelung“ und „Vermaisung“ werden aufgegriffen, einzelne Menschen werden stichwortartig gewürdigt. Das Buch ist anregend und unter Wanderern ggf. auch geeignet als „Missions-Geschenk“ für Freunde.

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