Ursprüngliches Ziel der Spätsommerwanderung (29. August – 6. September 2004) war eine Fortsetzung des Sentiero Italia östlich des Comer Sees. Wegen schwierigen Geländes auf der Nordtrasse und lückenhafter Infrastruktur auf der Südtrasse kam von Frank Rainer Scheck der Vorschlag, mich mal im Valmalenco zu versuchen, ein Vorschlag, den ich nicht bereut habe. Ich war überrascht, viele gut markierte Wanderwege – auch als Alternativstrecken zur „Alta Via“ (AV) - und eine gut ausgebaute Infrastruktur mit einem dichten Hüttennetz und vielen Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten vorzufinden. Daß dies nicht selbstverständlich ist, wurde mir schnell klar, da ich in mehreren Hütten – selbst am Wochenende - der einzige Gast war, der über Nacht blieb. Auch die Klage eines Hüttenwirts, daß durch einen neuen Wanderführer für die Region nur die großen Hütten gefördert würden und die kleinen auf der Strecke blieben, spricht für sich. Die heutigen Wanderer sind vorwiegend Tagesausflügler, die mit dem Geländewagen oder der Bergbahn in die Bergwelt hochfahren und am Abend wieder ins Tal zurückkehren. Hinzu kommt noch die zeitlich eingeschränkte Nutzungsmöglichkeit der alpinen Wege in Italien, da viele Bergbahnen und Buslinien nur in den Sommermonaten Juli und August verkehren und auch die meisten Hütten Mitte September bereits schließen. Dies wäre aus Witterungsgründen nicht zwingend. Ich wünsche mir, daß einige Leser meine Wanderung als Anregung für eine eigene Wanderung im Valmalenco – vor allem im Spätsommer - aufgreifen und diese nach eigenen Fähigkeiten/Bedürfnissen variieren. Ich habe einen eisfreien Weg gewählt, der ohne Eispickel und Steigeisen begehbar ist.
1. Tag
Mit dem Bus fahre ich von Sondrio (an der Bahnstrecke Mailand, Monza, Lecco, Tirano) nach Torre di S. Maria. Beginn der Wanderung über die Fahrstraße Via S. Guiseppe (nicht markiert) – Biancchi – Musci. Oberhalb von Musci erste AV-Markierung (gelbes Dreieck mit 1), die steil bergauf zeigt, Anstieg im Zick-Zack nach Pra Fedugno. Dort trifft man bei Pra le Corti wieder auf die Fahrstraße nach Pra Piasci und hat schon die ersten 1000 Höhenmeter bewältigt. Hier auch Einkehrmöglichkeit im Rifugio Cometti. Ich verlasse die AV und wähle den bequemen Weg direkt zum Rifugio Bosio (nicht markiert bzw. rot-weiß), der jedoch eindeutig und viel begangen ist. Ich erreiche mein Tagesziel nach ca. 4 ½ / 5 Stunden. Ich freue mich über 1300 Höhenmeter, die ich zurückgelegt habe und breche nach einer Stärkung noch zu einem Spaziergang ohne Rucksack auf. Die Wochenendausflügler haben sich langsam verzogen und zurück bleiben außer mir 3 Italiener und 1 Deutscher, die hier übernachten. Der Regen am Abend und in der Nacht stört mich wenig. Mehr zu schaffen macht das ausgiebige Nachtessen und mein zu warmer Schlafsack.
2. Tag
Heute steht die schwierigste Etappe bevor. Ich wandere über die Alpen Mastabia und Guimellino. Die Gegend wird noch intensiv für die Milchwirtschaft genutzt. Man trifft auf stillgelegte Bergwerke. Hier wurde früher Talkstein abgebaut. Auch eine stillgelegte Materialseilbahn ist zu sehen. Von hier zweigt eine Variante zur AV ab, die in den Karten nicht verzeichnet ist. Es ist zwar kein bequemer Weg (Blockfelder, aber erspart ca. 100 – 150 m Ab- und Wiederaufstieg. Man stößt oberhalb der Alpe Pradaccio wieder auf die AV-Hauptstrecke und hat dann noch über 900 Meter Aufstieg, meistens über Blockfelsen vor sich. Die Markierung ist hervorragend und die Strecke nur bei Nässe oder Nebel problematisch. Bei den Laghetti dei Sassera mache ich kurz Pause. Endlich ist der Passo Ventina mit 2675 m erreicht und man kann den herrlichen Ausblick auf den Pizzo Ventina mit dem Gletscher „Vedretta della Ventina“ genießen. Der Abstieg über Geröll ist ebenfalls nicht angenehm, aber man kann schon vom Paß aus das Tagesziel, die beiden Hütten „Rifugio Ventina“ und „Rifugio Gerli-Porro“ erkennen. Ein kleines Schneefeld wird problemlos gequert und der Weg führt weiter über die Endmoräne des Gletschers bis zum Rif. Ventina, wo ich nach 7 ½ Stunden Wanderung mit zitternden Knien eintreffe. Als einziger Gast werde ich zum Nachtessen in die Küche gebeten.
3. Tag
Vom Rifugio Ventina wandere ich über das benachbarte Rifugio „Gerli-Porro“ der Fahrstraße entlang. Es führt nach rechts ein markierter Weg zur Alpe Pirola und zum Lago Pirola ab. Kurz danach zweigt von der Fahrstraße nach links - den Berg hinunter - der Wanderweg durch den Wald ab und führt mich über mehrere Flußarme nach Forbicina. Die Kompasskarte ist hier ebenfalls sehr ungenau! Von Forbicina steigt der Weg hoch zur Alpe Laresin. Kurz danach teilt sich der Weg in den Hauptweg hinein ins Valle Sissione und rechts steil bergauf zur Alpe Sissione und zum Rifugio Grande Camerini. Ich habe mir schon durch das nasse Gras und Unterholz vom Regen der letzten Nacht nasse Hosen und Füsse geholt und entscheide mich für den Weg über die Alpe Sissione, der rot-weiß-rot markiert ist und außer einer Stelle, wo Felsen und Steine abgerutscht sind, vollkommen unproblematisch zu begehen ist. Bei der ehemaligen Alpe Sissione trifft man wieder auf den Hauptweg. Das Wetter ist heute nicht wanderfreundlich. Tief hängende Wolken beeinträchtigen die Sicht. Kurz danach stehe ich vor einer Felsbarriere, auf der oben drauf das Rifugio Grande Camerini steht. Markierungen weisen zwar senkrecht den Felsen hoch. Ich kann jedoch keine Treppe erkennen und um an einer Felswand hochzuklettern, bin ich nicht richtig ausgerüstet. Also schlage ich den Rückweg ein, dieses Mal über das Valle Sissione. Der Weg ist unangenehmer als es mein Direktaufstieg war. Man muß immer wieder über Geröll und Felsbrocken Seitentäler queren. Ein Bergrücken ist abgerutscht. Man kommt am einfachsten hinunter, indem man von oben aus dem rechten Rand entlang absteigt. Ein Teil der Markierungen sind noch vorhanden. Ich freue mich, als ich endlich auf der Fahrstraße von Forbicina nach Chiareggio angekommen bin und noch viel mehr, als ich mein **Hotel „Pian del Lupo“ in Chiareggio erreicht habe und unter die heiße Dusche kann. Wanderzeit ca. 6 ½ Stunden. Punkt 19.30 Uhr werden die Hotelgäste zum Nachtessen gebeten und danach kann man wieder die Leistungen der italienischen Küche bewundern und genießen.
4. Tag
Ruhetag, Zeit zum Wäsche waschen, Relaxen, und natürlich auch, um die Gegend ohne schweren Rucksack zu durchstreifen. Ich wandere zunächst auf alten Handelspfaden von Chiareggio in Richtung Passo Muretto bis zur Alpe d’Oro und biege dort links ab und folge der alten Mulatteria zunächst steil den Berg hinunter, dann eben auf der orographisch linken Seite vom Torrente Muretto, Markierung rot-weiß-rot, dann Querung des Flusses auf einer Behelfsbrücke zur Alpe Monterosso inferiore, stoße auf einen blau-weiß-blau markierten Weg, der vom Bergmassiv Monte del Forno kommt, und treffe bei der Alpe Vazzada superiore wieder auf das Teilstück der AV, die ich gestern infolge der Felswand nicht erreichte. Über die Alpe Vazzada inf. führt ein bequemer Weg zurück nach Chiareggio. Wanderzeit ca. 4 Std.
5. Tag
Auf gut markiertem Wanderweg wandere ich weiter von Chiareggio am Ortsausgang links zur Alpe Fora, wo man auf den Wanderweg vom Vortag von der Alpe dell’Oro stößt und weiter mit rot-weiß-roter Markierung zum heimeligen Rifugio Longoni (2450m) gelangt, Wanderzeit knappe 3 Stunden. Von dort steige ich ab zur Fahrstraße und folge dieser in Richtung Chiesa, auch als „Variante“ mit gelbem Dreieck und rot-weiß-rot gekennzeichnet. Die eigentliche Hauptstrecke führt die Fahrstraße hinauf in Richtung Forca d’Entova und soll im weiteren Verlauf zum Lago Palu nur unzureichend markiert sein. Ich folge der Fahrstraße über die Alpe Entova nach Bracciascia. Man muß nicht die ganze Zeit der Fahrstraße entlang laufen. Es gibt einen Direktweg zur Alpe Entova. Die Markierung ist von unten her gut zu erkennen. Die Abzweigung an der Straße habe ich jedoch nicht gesehen. Man kann unterwegs mehrere verlassene Bergwerke erkennen. Schiefer wird auch heute noch hier abgebaut. An einem Parkplatz am Waldrand zweigt der Weg scharf links ab und erreicht über die Almdörfer Paluetto, il Bacchetto, la Zocca den traumhaft schön gelegenen Lago Palu. Wanderzeit gut 6 Stunden. Übernachtungsgast im Rif. Lago Palu bin ich heute Abend der einzige.
6. Tag
Vom Rifugio steige ich auf unmarkiertem Weg hoch zur Alpe Roggione. Dort finde ich die Markierung der AV wieder, die mich zum Bocchel del Torno bringt. Das Gebiet um den Monte Motta und Monte Roggione ist Skifahrgebiet und wird erschlossen durch eine Seilbahn von Chiesa zum Lago Palu. Der Weiterweg verläuft leider auf eine Skipiste in Richtung Rif. Scerscen. Danach schöne Mulatteria in Richtung Alpe Campascio, Aufstieg über Rif. Mitta, Alpe Musella zum Rifugio Carate Brianza an der Bocchetta di Forbici (2630m), meinem heutigen Etappenziel. Wanderzeit ca. 5 Stunden. Den Nachmittag verbringe ich mit „Sightseeing“, die 4000er Pizzo Bernina, Pizzo Scerscen, Pizzo Roseg mit den Gletschern davor stehen schön aufgereiht vor mir!! Danke dem Hüttenwirt und seinem Fernglas! Außer mir sind noch 2 weitere Gäste für den späten Abend angekündigt.
7. Tag
Heute wandere ich über die „Variante“ vom Rifugio Carate über die Bocchetta de Fellaria (2819m) und die Alpe Fellaria zum Rifugio Bignami. Die Strecke sieht auf der Karte schwieriger aus, als sie ist. Sie ist auf der Kompasskarte nicht korrekt eingezeichnet. Man steigt nicht auf dem gestrigen Weg ein Stück ab, sondern wandert über Blockfelsen direkt von der Hütte in gleicher Höhe nach Osten. Der Weg kann nicht verfehlt werden durch die dichte rot-weiß-rote Markierung bzw. gelbes Dreieck auf weißem Grund. Ab der Bocchetta nur noch sporadische Markierungen, dafür große Steinhaufen. Wanderzeit nur 3 – 4 Stunden. Beim Rifugio Bignami handelt es sich um eine große CAI-Hütte, erbaut im Charme der 60er Jahre, aber mit herrlichem Blick auf den Stausee und auf den Gletscher. Die Hütte ist am Wochenende von Tagesausflüglern gut besucht, da auch 2 Gletscherlehrpfade von hier zu begehen sind. Am Abend bleibe ich als einziger Übernachtungsgast neben dem Hüttenpersonal zurück, eigentlich schade.
8. Tag
Vom Rifugio steige ich über eine Brücke an einem Wasserfall, der vom Gletscher „Vedretta di Fellaria“ kommt über viele Bäche nach Gembre. Dort teilt sich der Weg. Ich bleibe auf dem Weg am See entlang bis zur Alpe Val Poschiavina. Dort verlasse ich den Stausee und wandere durch das Val Poschiavina bis zum Passo Canciano (2464m). Hier überschreitet man die Schweizer Grenze und findet nun auch Schweizer Markierungen (weiß-rot-weiß). Bei der Flussquerung, der Entwässerung der „Vedretta del Pizzo Scalino“ hole ich mir nasse Füße. Aber bei dem heutigen Traumwetter spielt das keine Rolle. Der Weiterweg zum Passo Campaneda (2611 m) ist unübersichtlich. Beim Abstieg vom Pass muß ich die Hände zur Hilfe nehmen. Der Lago Campagneda lädt zur Mittagsrast ein. Ab hier wieder sehr guter Weg über weite Weideflächen. Oberhalb der Alpe Campagneda gabelt sich der Weg. Ich nehme den linken in Richtung Alpe Prabello, Rif. Christina (2226 m). Rund ums Rifugio Christina befindet sich ein schön hergerichtetes Almdorf mit neurer Steinkirche und nicht nur Wochenendhäusern. Außer einer Familie, die hier ihre Ferien verbringt, gibt’s hier keine weiteren Übernachtungsgäste. Wanderzeit heute 6 – 7 Stunden.
9. Tag
Schlussetappe. Über die Alpen Aquanera und Cavaglia wandere ich in Richtung Piazzo Cavalli. Der Weg wird auch von den Hirten benutzt und ist auch im Nebel noch gut zu erkennen. Wanderzeit bis Piazzo Cavalli ca. 3 Stunden. Hier endet der Weg an der Seilbahnstation. Die letzte Seilbahn fuhr nur leider Ende August. Nun folgt die unangenehmste Etappe. Ich steige über die Fahrstraße über Piapaccio, S. Antonio, S. Elisabetta ab nach Caspoggio. Unterwegs ärgere ich mich, dass ich nicht einen anderen Weg gesucht habe, aber Caspoggio ist zwar recht touristisch, bietet trotzdem einen gut erhaltenen bzw. restaurierten Ortskern mit Kirche und engen Gassen und kleinen Plätzen. Im Albergo Tettamanti finde ich eine angenehme Unterkunft, bis mich am nächsten Morgen der Linienbus wieder hinunter ins Tal bringt.
Benutzte Karten:
Kompasskarte „Bernina – Sondrio“ 1:50.000
Carta dei Sentieri e Rifugi: „Alpi Retiche“ Pizzo Bernina Monte Disgrazia 1:25.000