66 Seen erwandert man auf einem Weg um Berlin herum
Die Sonne funkelt zwischen im Wasser modernden Baumstümpfen. Vertrocknetes Schilf wiegt sich raschelnd im Wind, der sanft durch die Bäume streicht. Viele Spaziergänger schlendern auf sandigem Weg an diesem Idyll vorbei, an einem Forsthaus mit Gastwirtschaft auf einer Lichtung findet sich kein freier Tisch mehr. Später aber verlieren sich an diesem Feiertag die Menschenmassen und der Weg zu den 66 Seen rund um Berlin wird wieder so einsam, wie er meist ist. Von einem See ist allerdings vorerst auf der Etappe zwischen Birkenwerder und Wandlitz im Norden der Bundeshauptstadt nichts zu sehen. Der Sumpf wird vom Bach Briese abgelöst, der sich zwischen glatten Buchenstämmen durchschlängelt. Enten schwimmen auf dem Wasser, Kolkraben rufen über den Kronen.
Abgesehen von den vielen Menschen, die man an wenigen Stellen wie in der Weltkulturerbe-Stadt Potsdam trifft, vergisst der Wanderer auf diesem Rundweg rund um Berlin sehr schnell, dass er sich nur wenige Kilometer außerhalb der einzigen Metropole Deutschlands befindet.
In vierzehn Etappen führt dieser Weg einmal um die Bundeshauptstadt und zeigt dem Wanderer so ungefähr alle Landschaften, die das Land Brandenburg zu bieten hat: Märkische Heide und märkischer Sand, dunkle Kiefernwälder, uralte Eichen, Birkenalleen, Sümpfe, Wiesen und Äcker. Mit ein wenig Glück sichtet man Spechte, Eichelhäher, Bussarde, Milane, Falken, Haubentaucher und Graureiher. Im Frühjahr und Sommer klappern die Störche in der Mark Brandenburg und während des Vogelzugs im Frühjahr und Herbst rasten Wildgänse und Kraniche in und an den Seen.
Soviel Natur vermutet kaum jemand in der unmittelbaren Umgebung einer Millionenstadt. Durch die deutsche Teilung aber ging die Verstädterung des Umlandes an Berlin mit wenigen Ausnahmen weitgehend vorbei. Im Gegenteil, in manchen Dörfern scheint die Zeit bereits vor hundert Jahren stehen geblieben. Der Wanderer taucht in eine Vergangenheit, in der irgendwo zwischen deutschem Reich und DDR die Uhr stehen geblieben ist. Bröckelnder Putz an mancher braunen Fassade gibt so manchem Dorf eine Würde, die andernorts längst Wettbewerben unter dem Motto „Unser Dorf muss schöner werden" geopfert wurde.
Ganz eigen wirkt zum Beispiel Wandlitz: Obwohl der abgeschottete Wohnbezirk der DDR-Größen „Waldsiedlung Wandlitz" ein ganzes Stück abseits der Wanderung liegt und längst in eine Reha-Klinik umgewandelt wurde, atmet das Seeufer vielleicht am deutlichsten die Atmosphäre, die nach der Wende in den östlichen Bundesländern das Klima bestimmt. Datschen neben einfachen Ein- und Zweifamilienhäusern im althergebrachten Braunputz wechseln sich mit pompösen Prunkvillen, die anscheinend besser mit Alarmanlagen gesichert sind als die legendären US-Goldreserven in Fort Knox. Und zwischen diesen Vermögensanlagen auf Seegrundstück blättert der Putz von den Häusern der Alteingesessenen.
Samt dem Bahnhofs-Ensemble im Bauhausstil ist Wandlitz eine Sehenswürdigkeit, die der Wanderer so quasi am Wegesrand einfach „mitnimmt".
Niemand wird übrigens die 14 Etappen rund um Berlin in einer Tour unter die Wanderstiefel nehmen. Sind doch alle Ausgangs- und Endpunkte der einzelnen Wegstrecken selten im Zweistundentakt, meist aber im Stunden- oder gar im Zehn-Minuten-Takt mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Wer auf Dienstreise in Berlin ein Wochenende anhängt, kann also leicht die eine oder andere Etappe zwischen den 66 Seen genießen und dabei eine Gegend kennen lernen, die in Deutschland einmalig ist.
Offizieller Startpunkt für die 373 Kilometer lange Rundwanderung ist der Touristenrummel Potsdams um die Schlösser Sanssouci und Cecilienhof. Bald aber erreicht man aus der quirlig-behäbigen Hauptstadt des Bundeslandes Brandenburg die Einsamkeit der Mark Brandenburg - und hat bereits die ersten fünf Seen nach einer halben Etappe fotografiert. Wie der Name es bereits andeutet, geben vor allem die Gewässer der 66-Seen-Wanderung ihren besonderen Reiz. Dorfteiche und Fischweiher sind dabei noch gar nicht mit gezählt. Vom Entwässerungsgraben bis zum Kanal für große Schiffe reicht die Palette der künstlichen Gewässer, an denen man entlang schlendert. Stundenlang folgt man Bächen wie der Briese oder der behäbigen Havel.
Je nach Wochentag flitzen Sportboote oder tuckern schwere Lastkähne über das glatte Wasser, immer wieder schreckt der Wanderer Enten auf. Hohe Pappeln spiegeln sich im glatten Wasser, der Wind rauscht durch das Herbstlaub, übertönt aber nicht das Gezwitscher der Vögel. Manchmal endet der Weg in gigantischen Sand- oder Schutthaufen - ein Zeichen für die lebhafte Baukonjunktur im Umland von Berlin. Nur mit Mühe und geschickten Balance-Übungen am Ufer eines Kanals kommt man weiter, stößt aber bald wieder auf den alten Weg. Der wiederum ist manchmal eher wild und verwachsen als romantisch und bequem. Aber meist ist es ein gemütliches Wandern zu den 66 Seen.
Sattrot spiegelt sich dann wieder das Herbstlaub in einem der unzähligen Gewässer, an denen der Wanderer vorbei kommt. Einsame Häuschen ducken sich unter dem Laub ans Ufer. Dann taucht der Pfad wieder in einen der typischen Mischwälder ein, in denen sich Eichen, Buchen, Birken und Kiefern der Sonne entgegen strecken. Ein schneeweißer Schwan treibt einsam über fast schwarzes Wasser, am Ufer zittern Angler frierend im kalten Herbstwind. Die seltenen Krebsscheren strecken ihre Agaven-ähnlichen Blätter unter Wasser dem Licht entgegen, Schafe weiden daneben auf einer kargen, märkischen Wiese. Und in der Ferne blinkt schon das Wasser des nächsten der 66 Seen.
PS: Im Wanderbuch „Die 66-Seen-Wanderung" vom Trescher-Verlag in Berlin (ISBN 3-89794-005-1) beschreibt Manfred Reschke die Etappen der Rundwanderung um Berlin. Normalerweise genügen die Karten im Buch zur Orientierung. Allerdings sind viele Etappen für den normalen Wanderer relativ lang. Sie lassen sich aber meist problemlos unterbrechen, da auch in den dazwischen liegenden Orten häufig öffentliche Verkehrsmittel von der Regional- und S-Bahn bis zum Bus in ausreichender Frequenz verkehren.