Enttäuschung – warum? Weil der Karnische Höhenweg weiß Gott nicht mehr das ist, was er vor 19 Jahren war. Damals, 1993, war er zumindest in Deutschland noch ein Geheimtipp. Deutsche traf ich unterwegs kaum, nur einige Österreicher, Italiener, eine belgische Familie, es gab viel Platz auf den meisten Hütten. Und heute? Heute ist er eine richtiggehende Modetour geworden, einige Hütten sind vergrößert worden und trotzdem zu klein. Zudem ist man ja auch nicht mehr das, was man vor 19 Jahren war. Nun, gut, im August 2012 sollten es wenigstens die westlichsten Etappen des Höhenwegs sein. Den langen Übergang vom Hochweißsteinhaus zur Porzenhütte traute ich mir nicht so recht zu, außerdem war die Wetterlage Ende Juli 2012 zu unsicher – kaum ein Tag ohne Regenschauer. Also gut, dann Anfahrt nach Obertilliach mit seinem unter Denkmalschutz stehenden Ortskern, einer Sehenswürdigkeit ersten Ranges. Aber nicht heute, wir wollten den Talaufstieg zur Porzehütte angehen. Viele dicke Wolken – wenn wir nur nicht zu nass würden! Daher unverzüglich los!
Es war ein typisches Karnier-Tal, typisch insofern, als es einfach nur herrlich grün war. Überall üppige Vegetation. Einige Zeit stiegen wir auf einem Sträßchen aufwärts, auf dem man zur Not auch ein Stück in das Tal hätte fahren können, dann wechselten wir auf einen traumhaften Waldweg. Was machte es da, dass er in ständigem Auf und Ab verlief und man nur ganz allmählich Höhe gewann! Irgendwann erreichten wir doch den Klapfsee, 1680 m.
Kurze Rast und kostenlose Real-Satire: Ein deutsches Fahrzeug hatte den Fahrweg vor der Schranke so zugeparkt, dass der Hüttenwirt der Porzehütte mit seinem Geländewagen nicht vorbei kam. Viel Ärger und Geschrei! Glücklicherweise war der intelligente Autofahrer gehfaul, jedenfalls in nächster Nähe, so dass sich das Problem zwar nicht geräusch-, aber doch problemlos lösen ließ.
Guter Stimmung, da somit unser Abendessen doch noch gewährleistet war, stiegen wir das letzte Steilstück, nun glücklich doch im Regen, zur 1940 m hoch gelegenen Hütte empor, über – wie könnte es auch anders sein – üppig grüne Hänge. Die nahe Umgebung der Hütte wies fast den Charakter eines Wildgartens auf. Die Hütte selbst war seit meinem letzten Besuch vergrößert worden, das Angebot war mit damals nicht mehr zu vergleichen, aber das gilt ja für alle Hütten. Wir hätten sogar Eierlikörtorte bekommen können … Vor allem waren die sanitären Anlagen ungleich besser – damals nur Kaltwasser, jetzt Duschen. Muss man am Berg duschen? Ich finde, man sollte das nicht zur Glaubensfrage hochstilisieren. Ich bin vor 19 Jahren in einer Woche fast ohne Warmwasser auch nicht verdreckt, aber so ist's natürlich angenehmer.
Die Etappe von der Porzehütte zur Obstanserseehütte wird gewöhnlich in einem Tag zurückgelegt. Zufälligerweise war ich aber 2011 mal im Rahmen einer Tagestour mit einem meiner geliebten Osttiroler Lamas auf der Filmoor-Standschützenhütte und wollte jetzt dort unbedingt einmal übernachten. Wenn man sonst immer nur in den Vogesen wandert, weiß man exzellente Verpflegung ganz besonders zu schätzen und entwickelt die Mentalität eines Hundes oder einer Katze: Wenn man irgendwo gut und lecker gefüttert wird, dann vergisst man das nie wieder. Meinetwegen bin ich auch von spätrömischer Dekadenz bis ins Mark verseucht. Sei's drum! Der Höhenweg ab Porzehütte war wieder ein echter Karnierweg – üppige Vegetation, eine Orgie in Grün. Allerdings unterhalb der kolossalen Nordwand der Porze (2589 m), für deren Besteigung man Schwindelfreiheit und etwas Kletterfertigkeit mitbringen müsste. Aber auch auf unserem Weg musste man schon schauen, wo man hintrat, zumal es noch sehr nass war. Allmählich gewannen wir an Höhe, es wurde teilweise richtig steil, sogar ein kurzes Stück seilgesichert – dann ging's eine Etage höher, auf ungefähr 2200 m, zum Heretriegel hinüber. Ein traumhafter Rastplatz nach dem anderen! Jenseits bergab zum Oberen Stuckensee und wieder hinauf zur Filmoor-Standschützenhütte. Nichts als Grün und nochmals Grün, Balsam für die Nerven. Noch vor wenigen Monaten hätte ich die Filmoor-Standschützenhütte in den allerhöchsten Tönen gelobt, jetzt ist leider alles Vergangenheit. Wie gut, dass ich noch einmal oben war! Hüttenwirt Günter Haring (im Dezember 2012 leider verstorben) bewirtschaftete seit 1979 die Filmoor-Standschützenhütte, 2350 m, die eigentlich aus zwei winzigen Hüttchen besteht. Die eine beherbergt vierzehn Lager auf zwei Etagen; wenn mehr Leute da sind, muss man eben zusammenrücken. Im anderen Hüttchen stehen für die Gaststube mit ihren zwei Tischen und die Küche zusammen vielleicht 20 Quadratmeter zur Verfügung, zudem wohnen noch der Wirt und sein Personal dort – mehr als beengt. Strom oder Kühlmöglichkeiten scheint es nicht zu geben – bis auf Keller und Brunnen. Ab und zu übernimmt ein Helikopter die Hüttenversorgung, aber fast alles hat der Hüttenwirt selbst heraufzuschleppen – auf einem rauen Bergpfad, für den Normalsterbliche zweieinhalb Stunden einkalkulieren müssen.
Und die Karte? Meine Güte, die Karte! So etwas habe ich in dieser Höhe noch nie erlebt! Wenn man sie in Ruhe lesen wollte, bräuchte man eine knappe halbe Stunde. Was angeboten wurde, schmeckte fantastisch – und was wurde da alles angeboten! Zunächst: frischer grünen Salat mit steirischem Kürbiskernöl. Nochmals: Alles musste hoch geschleppt werden! Dann Suppe mit frischem Gemüse, Polenta in verschiedenen Variationen, auch mit frischem Ziegenkäse, am Abend sogar Forelle! Die Weinkarte umfasste ein gutes Dutzend wirklich erlesener Flaschenweine aus Österreich; wir tranken am Abend – nach einem Nachmittagsspaziergang zum Grenzkamm, wo einen der unvermittelte Blick auf die Sextener Dolomiten und die Berge um das Piavetal geradezu umhaut – einen herrlichen St. Laurent vom Star-Winzer Umathum (Neusiedlersee). „Wisst ihr“, sagte Günter, „es ist doch egal, ob ich einen Liter guten oder einen Liter schlechten Wein herauftrage!“ Das stimmte nicht, ihm war das keineswegs egal. Bei einem guten Tropfen sagte er nicht oft nein. Was nicht heißt, dass er ein Alkoholproblem hatte. Er genoss einfach sein Leben da oben in dieser Abgeschiedenheit, freute sich, wenn ihn Freunde besuchten, und fühlte sich in seiner Filmoor-Standschützenhütte jedenfalls viel mehr zu Hause als in seiner Heimatstadt Wien. Die Nachricht von seinem Tod hat mich sehr traurig gemacht, eigentlich wollte ich nächstes Jahr wieder hinauf und endlich mal den Hüttengipfel, die Große Kinigat, 2689 m, besteigen. Aber jetzt, wo alles nicht mehr so ist, wie ich es in der wunderschönen Erinnerung habe? Ob sich überhaupt so leicht wieder jemand für diese Knochenarbeit findet?
Den Sonnenaufgang von dieser Hütte aus werde ich als eines der eindrucksvollsten und ergreifendsten Erlebnisse meines gesamten Lebens in Erinnerung behalten. Dann ein ausgiebiges Frühstück, Günter bot mehrere Müsliarten und ein Dutzend Teesorten an, und weiter ging's. Wieder zum Grenzkamm und weiter nach Westen, immer vis-à-vis der Sextener Dolomiten und auf zunehmend widerlicherem Untergrund. Steilgelände, teilweise geröllig, nass und womöglich labil durch den vielen Regen. Ständig das Gefühl: Wenn es dumm läuft, polterst du beim nächsten Schritt zusammen mit einem Kubikmeter der nassen Erde talwärts. Vor 19 Jahren war mir dieses Wegestück gar nicht schlimm erschienen. Liegt es am höheren Alter? Nein, sagte einer meiner jüngeren Begleiter, sicher nicht, hier fühle sich niemand wohl.
Nach meinen vielen Mittelgebirgstouren der letzten Jahre wunderte ich mich schon ein wenig über die umständliche Wegführung. Klar, der Weg musste sich einfach durch das alpine Gelände durchmogeln und schwierige Passagen umgehen. Dafür war dann die lange Gipfelrast auf der Pfannspitze, 2678 m, ein Traum. Der Abstieg strengte an, war aber nur kurz und die Rast vor der wunderschön gelegenen, auch gründlich vergrößerten Obstansersee-Hütte die würdige Krönung des Tages. Kurzzeitig war sogar der Großglockner zu sehen. Allerdings zog es uns bald nach drinnen – der tägliche Schauer forderte seinen Tribut. Aber ich will nicht meckern, der Regen kam immer erst dann, wenn wir ein Dach überm Kopf hatten.
Von den drei Hütten, in denen wir bei dieser Tour übernachteten, gefiel mir die Obstansersee-Hütte am wenigsten, aber dafür konnte sie nicht viel. Sie war schlicht total überfüllt. Auf dem Lager konnte man nur mit angelegten Armen und ausgestreckten Beinen liegen – 10 cm links lag der Nächste, 10 cm rechts war die Wand und 20 cm über meiner Nase die Dachschräge. Nun, gut, es war, wie es war, und meine spätrömische Dekadenz – siehe oben …
Der letzte Tag am Karnischen Hauptkamm war der schönste. Mit Abstand! Vor 19 Jahren hatte ich diese Etappe als, na, ja, nicht besonders aufregend empfunden – raue Wege, sanfte Berge, aber Nebel. Ja, wenn man nichts sieht … Aber diesmal sahen wir etwas – und was alles! Im Norden das Osttiroler Pustertal, die Deferegger Alpen, die Tauern, im Süden die Sextener Dolomiten, dazu war der Weg, der bis auf den 2665 m hohen Eisenreich führte, wirklich einfach, so dass man das traumhafte Panorama in vollen Zügen zu genießen vermochte. Wir konnten uns nicht satt sehen; klar, das Wetter war wieder unzuverlässig, aber die Rundsicht war so eindrucksvoll, dass wir auch die weiteren Gipfel am Weg unbedingt besteigen mussten. Und eigenartig, hier waren kaum Leute unterwegs. Endlich ließen wir es genug sein: steiler Abstieg zum Hochgräntensee, wo wir wieder einige Ausflügler trafen. Zwei meiner Begleiter mussten partout ein FKK-Bad auf über 2400 m Höhe nehmen, worauf prompt Gewitterwolken aufzogen. Aber die verzogen sich ebenso schnell, wie sie gekommen waren – Glück gehabt. Trotzdem machten wir auf dem letzten Stück zur Sillianer Hütte, die aufgrund der vielen Tagesausflügler auf mich eher wie ein Berggasthof wirkte, Tempo, weil wir nicht nass werden wollten.
Nach Rast und Stärkung seilten wir uns – in umgekehrter Richtung, wie ich sie vor 19 Jahren genommen hatte – von den Ausflüglern und Seilbahntouristen ab und wandten uns wieder nach Osttirol. Auf einem Fahrweg, den man schon als Kniebrecher bezeichnen konnte, stiegen wir zur Leckfeldalm ab. Ich wusste schon, warum – das ist ein wunderschön gelegener Berggasthof mit Sonnenterrasse und man kann auch sehr schön übernachten, in kleinen, aber sehr netten Zweibettzimmern. Wirklich eine sehr gute Alternative zur Nacht in der Sillianer Hütte. Auf der Wiese neben der Terrasse hoppelten einige glückliche Kaninchen herum – na, ja, glücklich, solange sie nicht vom Fuchs oder Adler geholt wurden.
Abends goss, blitzte und donnerte es, was das Zeug hielt, aber einmal mehr waren wir trocken geblieben. Was wollte man mehr! Am nächsten Morgen ließen wir uns vom Kleinbustaxi der Leckfeldalm zurück zum Auto nach Obertilliach chauffieren. Den langen Abstieg nach Sillian und die Rückfahrt mit dem Bus wollten wir uns denn doch nicht antun – das Wetter war wieder schlecht geworden.
Fazit:
Die Karnischen Alpen sind und bleiben ein höchst abwechslungsreiches, wunderschönes, einfach traumhaftes Bergland, traumhaft speziell für jeden, der ausgedehnte, üppig blühende Bergwiesen liebt. Aber viele Nächte wie die in der Obstanserseehütte muss ich mir in diesem Leben nicht mehr antun.
Fotos: Thomas Striebig