Der Hunsrück – Terra incognita

Auf dem Ausoniusweg und dem Moselhöhenweg von Bingen nach Trier

Beatus ille, qui procul negotiis.

Schon lange hat es mir der Hunsrück angetan. Die nicht besonders ausgeprägte touristische Infrastruktur, das Fehlen von bekannten Wanderwegen (wenn der Moselhöhenweg außen vor bleiben darf), nicht zuletzt die weite Hochfläche dieser Landschaft, geben - einmal wieder - den Ausschlag für eine Mehrtagestour. Diese Ecke Deutschlands - durch Edgar Reitz’ Filmreihe „Heimat“, vor etlichen Jahren kurzzeitig ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit geraten - befindet sich immer noch in einem wandertouristischen Dornröschenschlaf.

Für eine Überquerung des Hunsrücks bietet sich der Ausoniusweg geradezu an. In beinahe gerader Linie geht es vom Rhein an die Mosel. Ein „Manko“ hat der Weg allerdings: schmale Pfade wird man vergebens suchen. Im Gegenteil. Der Ausoniusweg hat das, was bei der Planung andere Weitwanderwege tunlichst vermieden wird: eine an die 10 Kilometer lange Gerade! Breite und gerade Wirtschaftswege sind die Regel. Wo es anders nicht möglich ist, wird dieser Weitwanderweg gnadenlos über wenig befahrene Landstraßen geführt. Für Erlebnisräume und Inszenierungen muss die Landschaft sorgen. Fürs sinnliche Erleben ist man selber zuständig. Bauwerke oder Naturwunder die man unbedingt gesehen haben muss, gibt es weit und breit auch nicht. Es sei denn, man zählt die Täler von Rhein und Mosel und die älteste Stadt Deutschlands, Trier, zum Hunsrück. Das Beste am Weg: Stunden- oder sogar tagelanges Wandern durch monotone Fichtenwaldkulturen fällt aus! Der Weg bleibt überwiegend in der freien Hunsrücklandschaft zwischen Idarkopf und Mosel und lässt so die großen Hunsrückwälder, wie den Soonwald, südlich liegen. Für freie Sicht über die hügelige Hochebene ist also zu Genüge gesorgt.

Es ist genau die Landschaft, die mir seit einiger Zeit zusagt. Beste Voraussetzungen für eine geruhsame und einsame Wanderung. Noch! Denn langsam kommt Bewegung in diese Wandergegend. Neben neuen Routen, wie dem „Sponheimer Weg“ (Bad Kreuznach – Traben-Trarbach), ist ein „Saar-Hunsrück-Steig“ in Sicht.

Der römische Hofdichter Decimus Magnus Ausonius musste für diesen Weg seinen Namen hergeben. Die Beschreibung einer Kutschfahrt von Bingen nach Trier, die er im Jahr 371 nach Christus unternahm, liefert die Begründung für diesen Weitwanderweg. Die Ausoniusstraße verband schon im 3. Jahrhundert nach Christus den Rhein mit der römischen Kaiserresidenz in Trier. Bis ins späte Mittelalter – auf Teilstrecken sogar bis in die Neuzeit - wurde diese alte Handels- und Kriegsstraße von den Einwohnern der Region genutzt. Bis auf kleine Abschnitte ist diese historische Trasse heute unter den Bundesstraßen und Feldwegen verschwunden

Weitwanderwege dieser Länge wecken in mir meist den sportlichen Ergeiz. Nach drei Tagen will ich unter dem Torbogen der Porta Nigra stehen, nehme ich mir vor. Die Legionen Roms, die diesen Weg genutzt haben mögen, waren auch nicht auf einer Kaffeefahrt. Hinzu kommt, dass ich für das obige Motto nur drei Tage zur Verfügung habe. Wer ist schon frei von allen Verpflichtungen? Besonders in den Zeiten einer Fußball-WM! Eine weitere Vorplanung ist nicht nötig. Die Wanderkarten für das durchwanderte Gebiet stehen noch im Regal. Ab damit in den neuen Rucksack (der soll auf den Prüfstand) zu Zelt, Isomatte, Schlafsack, Kocher und ein paar Klamotten. Fertig! Wandern kann so einfach sein.

I. Citius, altius, fortius.

Die Nomenklatur der Deutschen Bahn soll einer verstehen. Nach der Durchsage „Nächster Halt Bingen-Hauptbahnhof.“, stehe ich nun auf dem Bahnsteig des besagten Hauptbahnhofs. Leider ist der in Bingerbrück. Der Ausoniusweg fängt bei der Burg Klopp in Bingen-Stadt an. Was soll’s. Die B9 hat auch ihre Reize. Der römische Poet wird es mir nachsehen, wenn ich erst an der Drususbrücke auf den Weg treffe, der nach ihm benannt ist.

„Warum beginnen die meisten Wanderungen immer mit einer Steigung?“, denke ich mal wieder, als es durch die sehr kurze Mühestraße (hoffentlich ist der Name nicht Programm für die nächsten Tage) vom Rheintal nach Weiler hinauf geht. Bis Weiler geht es über einen schmalen und schattigen Pfad. Danach übernimmt eine wenig befahrene Landstraße den Ausoniusweg. Das mit der Landstraße wird ab hier noch mehrfach vorkommen. Beim Dahintrotten zum ehemaligen Bergwerk Amalienhöhe, mache ich mir Gedanken über diese Wegführung. Wollten die Macher, so weit es die heutigen Verhältnisse erlauben, den Weg an die Originalroute aus der Römerzeit halten? In den nächsten Tagen habe ich noch mehrmals die Gelegenheit darüber nachzudenken.

Als Entschädigung gibt es von der Amalienhöhe zum ersten Mal einen weiten Blick in den Hunsrück und zurück in die Rheinebene. Im Waldalgesheimer Wald gibt es keinen Fernblick mehr, dafür Schatten (seit Beginn der Beckenbauer-WM gibt es nur noch heiße, sonnige Tage) und die Asphaltstrecke wird von einem breiten, geschotterten Waldweg abgelöst. Irgendwo hier kreuzt der Europäische Fernwanderweg E8 die Strecke. Eine Markierung oder ein Hinweisschild suche ich vergebens. Schade. Auch der Ausoniusweg ist hier keiner Erwähnung wert, dafür der Sandweg. Dieser führt zu einer breiten Schneise mit nicht zu übersehenden Hochspannungsleitungen. Eine zeitlang begleitet mich das Knistern der Stromleitungen. Danach ist mal wieder eine Autostraße fällig. Bei etwas anderer Wegführung, Alternativen gibt es, bliebe einem beides erspart.

Beim Blick vom Ohligsberg (608 m), dem höchsten Punkt dieser Wandertour, sind diese ketzerischen Gedanken hinfällig. Es hat sich mal wieder gelohnt. Bei fast klarem Wetter kann ich bis ans Ende der bekannten Welt sehen. Die Gewissheit nun oben auf dem Hunsrückplateau zu sein, macht die Pause noch schöner.Die ehemalige US-Raketenabschussbasis vor Dichtelbach böte einige gute Übernachtungsmöglichkeiten. Das Tor steht offen und überdachte, frei zugängliche Gebäude, die Platz für eine Isomatte bieten, gibt es auch. Punktabzug gibt es für die Büsche, die den Tennisplatz hier und da beleben. Nach 16 Kilometer schon Feierabend? So wird das nie was mit den drei Tagen. Höher? Heute nicht mehr! Schneller? Nicht unbedingt. Weiter! Also runter in den Ort und gemeinsam mit dem Europäischen Fernwanderweg E3 (ein kleines Schild auf freiem Feld weist darauf hin) nach Rheinböllen.

Hinter Rheinböllen wurde der Weg verlegt. Ich frage mich dann schon mal nach den Ursachen. Hat ein Waldbesitzer gemault? Bekommt der Jäger kein Wild mehr vor die Flinte? Ist die neue Strecke schöner? Oder stecken wirtschaftliche Gründe dahinter? Keine Ahnung. Hier führt der Ausoniusweg jetzt nicht mehr durch den Wald, sondern am Waldrand vorbei. Mir soll es recht sein, zumal die neue Strecke freie Sicht über den Hunsrück bietet. Bis Dichtelbach führte die Route meist durch schattigen Wald. Ab Rheinböllen geht es überwiegend durch die nun offene, weit einsehbare Landschaft. Meist durch Wiesen und Felder, oft an einem Waldrand vorbei, immer nach Westen. Einem Sonnenbrand steht nichts mehr im Wege.

Seit Rheinböllen habe ich den Pegelstand meiner Trinkwasserflasche im Auge. Am Wahlbacher Friedhof soll der wieder steigen. Ein Blick in das Wassersammelbecken und ich vertröste mich auf Simmern. Vorbei an den seit einigen Jahren auch im Hunsrück unvermeidlichen Windkraftanlagen, geht’s ins Simmerner Industriegebiet. Die Supermärkte lasse ich links (eigentlich rechts) liegen. In der Innenstadt wird es auch noch was geben. In der Fußgängerzone das altbekannte Problem – gähnende Leere; und ich sehe mich plötzlich ohne Trinkwasser dastehen. Zum Glück gibt es einen russischen Lebensmittelladen. Obwohl Simmern ein nettes, unaufgeregtes Städtchen ist, hält mich nichts. Nach kurzer Pause gehe ich Richtung Krankenhaus aus der Stadt hinaus. Hier, am Stadtrand, lauert die eigentliche Versuchung des heutigen Tages. Beruflich war ich schon oft in der Gegend. Und dass es dort ein gutes und bezahlbares Hotel gibt, ist mir nicht entgangen ...

An der B50 hat der innere Schweinehund verloren. Und meine Augen und Ohren freuen sich über die Verlegung des Weges. Über Jahre führte die Trasse des Ausonisweges direkt an der stark befahrenen Bundesstraße vorbei. Jemand hat wohl endlich ein Einsehen gehabt. Auch wenn sie jetzt nicht mehr ganz so historisch ist, die neue Wegführung ist um vieles besser. Prompt verpasse ich die Abzweigung, die von Ohlweiler nach Schönborn führt. Die kaum sichtbare weiße Markierung auf einer Bordsteinkante an einem Garten ist schon überwachsen. Über einen schönen Wiesenweg geht es in den Ellergrund, der langsam nach Schönborn hinauf ansteigt.

Im kleinen Wald - zwischen Schönborn und Rödern - ist Pause angesagt. Es geht auf den Spätnachmittag zu und ich mache mir langsam Gedanken, wo die „Rennerei“ heute enden soll. Einerseits ist das Wäldchen ideal (ruhig, weit ab vom Schuss, Abendsonne und sehr wichtig: eine Bank), anderseits überzeugt mich ein Blick in die Wanderkarte, dass es bis zum Feierabend noch was dauern kann. Ein Drittel der Strecke liegt hinter mir. Eigentlich sollte das für diesen Tag reichen. Erfahrungsgemäß kommt morgen oder übermorgen der große Durchhänger. Es kann nicht schaden, wenn ich noch einige Kilometer dranhänge. Wasser brauche ich auch wieder. Kirchberg ist ab jetzt das neue Ziel.

Von Rödern bis Kirchberg habe ich erneut Gelegenheit über die Verbindung von Wanderweg und Kreisstraße nachzudenken. Die älteste Stadt im Hunsrück hat nur 4000 Einwohner, da hält sich der Verkehr zum Glück in Grenzen. Die Trinkflasche ist mal wieder leer. Zusätzlich will ich mir einen Trinkwasservorrat für den Abend und den morgigen Tag besorgen. Am Stadtrand gibt es einen großen Supermarkt. Leider nicht genau auf meiner Wanderroute. Im Gedenken an Simmern, frage ich einen Mann auf der Straße nach einem Geschäft im Zentrum. Ja, gibt es. Über das Woher und Wohin kommen wir ins Gespräch. Dass ich zu Fuß von Bingen nach Trier unterwegs bin, will ihm nicht in den Kopf, aber dass ich im Wald schlafen werde, findet er völlig normal. „Haben wir früher auf unseren Wanderungen auch immer gemacht. Oder beim Bauern in der Scheune.“, meint er. Tipps für einen guten Schlafplatz kann er mir auch nicht geben. Nach dem Einkauf hat sich mein Gepäck um fünf Kilo erhöht. Hauptsächlich Getränke. Bis zum nun feststehenden Ziel des heutigen Tages sind es noch 5 Kilometer. Die Ausoniushütte mit „Römerspielen“ oberhalb Dill soll es sein. Kurz vorher fängt die 10 Kilometer lange Gerade an.

Um 19 Uhr ist Schluss für heute. Die Schutzhütte liegt am Waldrand, ist groß, sauber, hat Tische und Bänke und freie Sicht nach Westen auf den Hunsrück bei Sohren. Das Zelt bleibt im Rucksack. Weil der Tagesproviant noch weg muss, kommt der Kocher auch nicht zum Einsatz. Als Nachhut einiger spätabendlicher Jogger zieht ein Jäger mit der Flinte auf der Schulter vorbei. Keine Panik! Ich zelte ja nicht. Er grüßt freundlich. Schon nach wenigen Metern habe ich den aus den Augen verloren. Wo der wohl steckt? Dass ich den Waidmann heute Abend noch mal sehen werde, ist wohl klar.

Der stetig wehende Westwind hat den ganzen Tag für erträgliche Temperaturen gesorgt, durchgeschwitzt bin ich aber doch. Schade, dass meine Frau nicht dabei ist. Die will mir auch nach vielen Jahren nicht glauben, dass man sich mit einem Liter Wasser von Kopf bis Fuß waschen kann. Danach rein in frische, saubere Klamotten und der Abend ist perfekt. Als es stockduster ist, rolle ich meinen Schlafsack auf der schmalen Bank aus. Eingeklemmt zwischen Hüttenwand und Tisch kann ich nicht runterfallen. Kurz bevor ich einschlafe, höre ich Schritte näher kommen. Auf Höhe des Hütteneingangs dann Stille. Nach einigen Sekunden entfernen sich die Schritte wieder. Eine Autotür schlägt zu, ein Anlasser rasselt und weg ist der Jäger.

II. Errare humanum est.

Um halb fünf holt mich der Wecker aus dem Schlaf. In dem Fall das Handy. Die übliche Morgenroutine, dann geht’s im Morgengrauen los. Eine Dose Cola muss den Kaffee ersetzen. Frühstück gibt es erst nach zwei, drei Stunden. Die 300 Meter bis zum Römerturm komme ich ohne Regenkleidung aus. Dann ist Schluss. Regenjacke und Regenhose raus. Der Rucksack schreit ebenfalls nach der Regenhülle. Regenschirm nicht vergessen. Ich hasse das! Der Himmel hängt grau und schwer bis auf die Felder herab. Das totale Kontrastprogramm zum gestrigen Tag. Zum Glück klart sich der Himmel kurze Zeit später etwas auf. Ich kann aus den ungeliebten Regenklamotten raus. Der Regenschirm muss nur noch gelegentlich ran.

Um halb fünf holt mich der Wecker aus dem Schlaf. In dem Fall das Handy. Die übliche Morgenroutine, dann geht’s im Morgengrauen los. Eine Dose Cola muss den Kaffee ersetzen. Frühstück gibt es erst nach zwei, drei Stunden. Die 300 Meter bis zum Römerturm komme ich ohne Regenkleidung aus. Dann ist Schluss. Regenjacke und Regenhose raus. Der Rucksack schreit ebenfalls nach der Regenhülle. Regenschirm nicht vergessen. Ich hasse das! Der Himmel hängt grau und schwer bis auf die Felder herab. Das totale Kontrastprogramm zum gestrigen Tag. Zum Glück klart sich der Himmel kurze Zeit später etwas auf. Ich kann aus den ungeliebten Regenklamotten raus. Der Regenschirm muss nur noch gelegentlich ran.

Beim Turmnachbau gibt es noch einige Meter der originalen Römerstraße, auf denen man aber nicht gehen kann. Dafür gibt es einen einige hundert Meter langen Nachbau eines römischen (?) Trampelpfades.

Irgendwann wird mit bewusst, dass ich auf der 10 Kilometer langen Geraden unterwegs bin. Hätt’ ich doch beinahe verschwitzt. Vielleicht weil diese Gerade mal als Feldweg, dann wieder als Waldweg oder als klitschnasser Wiesenweg daher kommt. Das leichte Auf und Ab hier oben auf dem Hunsrück verhindert im Augenblick eh’ einen Blick ins Unendliche. Mag es an der frühen Stunde, am grauen, tief hängenden Himmel oder an der einsamen Landschaft liegen – dieser frühe Morgen hat was. Trotz grauem Himmel und Gerade. Vielleicht ist es das alles zusammen.

Hinter Krummenau wird es auch wieder kurviger, als Zugabe wird der Weguntergrund auch wieder fester. Asphalttreten ist bis Hochscheid unterhalb des Idarkopfs angesagt. Das Wetter hat sich zwischenzeitlich auch wieder an die Fußballweltmeisterschaft erinnert – also wieder Kaiserwetter.

Ganz in der Nähe wurde 1939/40 eine Tempelanlage mit Brunnenanlage und allem Pi Pa Po ausgegraben. Vom Quellenheiligtum ist heute nichts mehr zu sehen. Die Funde befinden sich im Landesmuseum in Trier. Die Ausgrabungsstätte wurde zugeschüttet. Einen Besuch kann ich mir ruhigen Gewissens ersparen. Das sieht im Archäologiepark Belginum anders aus. Der Besuch lohnt schon eher. Das Beste an diesem Museum ist die Lage. Weit geht der Blick über die Dörfer und Wiesen bis in die Eifel. Die Kelten, wie auch deren Nachfolger, die Römer, wussten schon, warum das der geeignete Ort für eine Siedlung mit Grabanlage war. Auf der Museumsmauer sitzend ändere ich meine Planung. Ich werde nicht mehr der Hauptroute folgen, sondern nehme die Variante, die hinab nach Neumagen-Dhron und an die Mosel führt. Diese Strecke folgt dem historischen Verlauf der Römerstraße. Dass ich für einen kurzen Abschnitt keine Wanderkarte habe, nehme ich in Kauf. Bisher war der Weg sehr gut markiert. Wird schon gehen!

Vom Museum oberhalb Wederath zieht sich der Weg ins Unendliche. Steigungen, die diesen Nahmen verdient haben, gibt es die nächsten Kilometern nicht. Ab der Bundesstraße zwischen Morbach und Gonzerath (wird zum Glück nur überquert) gibt es endlich wieder Panoramablicke. Richtige Hochstimmung will bei mir trotzdem nicht aufkommen. Erstens geht es über eine Landstraße weiter und zweitens ist der Panoramablick einem endlosen Wald gewichen. Und der befürchtete Durchhänger ist da. Beinnahe endlos führt die Straße in einer geraden Linie nach Westen. Als ein Autofahrer anhält und mich freundlich zum Mitfahren bis zum Abzweig nach Elzerath auffordert, brauche ich für das „Nein“ schon einige Sekunden. Irgendwann ist das Stück Landstraße geschafft. Es geht allerdings, wenn auch über einen breiten Waldweg, immer noch ohne Biegung weiter geradeaus. Die superlange Gerade heute Morgen empfand ich als sehr angenehm (das lag wohl am steten Wechsel zwischen Wald, Feld und Wiesen), die viel kürzere hier bringt mich in Rage. Frust kommt auf. Einfacher gesagt: Im Augenblick finde ich Wandern zum Kotzen!

Am Abzweig der Hauptroute steht endgültig fest, dass ich auf der historischen Strecke bleiben werde. Am Weinplatz, nach einer ausgiebigen Pause, hat sich meine Stimmung wieder deutlich gebessert. Also weiter dem weißen „AU“ hinterher. Wegen fehlender Wanderkarte muss ich nun der Markierung und einer etwas ungenauen Wegbeschreibung aus dem Wanderführer vertrauen. Prompt verlaufe ich mich. Irgendwann bleiben die Markierungen ganz aus. Was tun? Die Wegbeschreibung bleibt für diesen Abschnitt etwas kryptisch: „... Durch das Päseler Wäldchen folgen wir der ausgeschilderten (AU), aber dennoch etwas komplizierten Streckenführung ...“ So ist es. Weitergehen bringt nicht viel. Alles wieder zurück bis beinnahe an den Weinplatz. Irren ist menschlich! Als „Preis“ muss ich runter vom Ausoniusweg und auf den Moselhöhenweg wechseln. Von dem habe ich noch eine vage Erinnerung von einer lange zurückliegenden Wanderung. Auf alle Fälle jedoch die passenden Wandkarten. Also, auf an die Mosel! Vom Honrather Sportplatz runter zur Pulvermühle und durch ein Seitental wieder hinauf zum Dhrönschen, wo die ersten Weinberge der Mosel auftauchen. Von hier oben gibt es einen fantastischen Weitblick ins Moseltal. Weinberge und Winzerdörfer so weit das Auge reicht. Leider ist auch ein Hotel zu sehen. Nur wenige Meter neben dem Moselhöhenweg. Es geht schon wieder auf 18 Uhr zu. Soll ich? Nein! Ich gehe runter nach Trittenheim. Dort, direkt an der Mosel, gibt es einen kleinen Campingplatz.

Zelt aufbauen, Duschen und ab ins Dorf zum Italiener. Touristenorte haben nicht nur Nachteile. Als ich auf den Platz zurückkomme, hat sich neben meinem Zelt ein Ehepaar aus Holland niedergelassen. Die sind mit dem Fahrrad unterwegs. Gestartet sind sie in Nordholland und wollen in drei Wochen in Florenz sein. Wie viele Holländer kommen die beiden bei der Beschreibung der Eifelstrecke aus dem Schwärmen nicht mehr raus. Akustisch wird unsere Unterhaltung von einem Hubschrauber untermalt. Bis zum Einbruch der Dunkelheit werden die Weinberge am anderen Moselufer ausgiebig mit dessen Hilfe gespritzt. Im Zelt liegend höre ich der Fernsehübertragung eines Fußballspiels zu. Wie jämmerlich sind die Kommentare der Fernsehreporter, wenn man das Bild nicht sieht! Geradezu ein Schlafmittel.

III. Perfer et obdura!

Um sieben Uhr bin ich wieder unterwegs, es ist wieder Kaiserwetter angesagt. Wieder geht’s den Berg hinauf, zum Dhrönschen. Nach einer Stunde komme ich an dem Campingplatz vorbei, der oben auf dem Berg direkt am Weg liegt. In der Wanderkarte hatte ich den auch gestern Abend schon gesehen. Ganz sicher war ich mir nicht, ob es den immer noch gibt. Und im Hotel fragen? Der innere Schweinehund ...

Als wollte mir das Moseltal beweisen, dass es auch anders möglich ist. Die Wegführung geht von nun an immer wieder bergauf und bergab. Beim Fünfseenblick steht ein neuer Aussichtsturm an der Hangkante. Der stand vor acht Jahren noch nicht hier. Also rauf. Bei dem Blick, der sich mir von der obersten Plattform bietet, ist eine längere Pause angesagt. Danach kommt die Autobahn in Sicht. Was viel schlimmer wiegt, ist der Lärm. Da gibt nicht nur der Autofahrer Gas, auch ich drücke aufs Tempo. In Riol ist das alles wieder vergessen.

Mir fallen die Rosenstöcke an den Weinstöcken auf. Wozu mögen die gut sein? Werden damit die Weinberge untereinander abgegrenzt? Fragen hat noch nie geschadet. Na dann mal los. Leider weiß ich es bis heute nicht. Von den sechs ArbeiternInnen, die ich im Weinberg anspreche, kommen vier aus Polen und zwei aus Rumänien. Über den Wein hier können die mir einiges erzählen, sie kommen seit Jahren im Frühling und bleiben bis zur Weinlese, aber die Rosen sind ihnen noch nicht sonderlich aufgefallen.

Hinter Riol ist es dann soweit: Der letzte Anstieg dieser Wanderung steht an. Das bringt mir die zweite Luft. Die Motivation könnte besser nicht sein. Dann also hinauf in den Longuicher Wald. Ab dem Sauerbrunnen in diesem Wald ist dann auch der Ausoniusweg wieder mit von der Partie. Das läuft jetzt wie von selbst. Rüber über die B 52 und dann nur noch abwärts bis nach Ruwer. Bei den Häusern oben am Dorfrand kommt endlich das Ziel in Sicht. Im Mittagsdunst kann ich die Türme der Trierer Kirchenlandschaft erkennen. Nix wie runter ins Dorf zur Bushaltestelle. „Bus?“, höre ich jetzt schon die erstaunte Frage meiner Frau, „Das gab es ja noch nie!“ Da lasse ich den Bus nach Trier Bus sein; und beschließe die letzten 6 Kilometer bis zur Porta Nigra auch noch zu gehen. Schon bei der Kläranlage der Stadt zweifele ich an meinen Verstand. Die letzten Kilometer bis zum Bahnhof hätte ich mir ersparen sollen. Nicht nur dass die Strecke öde ist, mittlerweile gehe ich auf dem sprichwörtlichen Zahnfleisch. Den Satz „Quäl dich du Sau!“, den sich Jan Ulrich mal anhören musste, hilft mir über die letzen Innenstadtkilometer. Etwas eleganter: Halte durch und sei hart! Nun ja. Seitdem kenne ich eine Ecke in Trier, in der ich auf keinen Fall wohnen möchte.

Am frühen Nachmittag bin ich am Bahnhof. Platt, geschafft und bar jeglicher Lust auf einen Stadtbummel. Die Innenstadt mit ihren historischen Gebäuden und Plätzen kann mir gestohlen bleiben. Die Besichtigungstour kann ich im Juli, dann werde ich wohl wieder in Trier sein, noch nachholen. Hinzu kommen erhebliche Rückenschmerzen. Der neue Rucksack - obwohl ein Markenprodukt und nicht preiswert - ist nicht für mich geschaffen. Für die nächsten Touren wird wieder einer von den alten Rucksäcken herhalten müssen.Eine Stunde später sitze ich im Zug, der mich zurück ins Rheinland bringt. Der Rücken tut nicht mehr weh und nach zwei Tassen Kaffee ist von der Erschöpfung nicht mehr viel geblieben. Zeit und Muße um über neue Wanderungen nachzudenken. Mal wieder die Eifel? Oder Jakobsweg? Oder doch besser nach Frankreich? Zum Glück gibt es beinahe überall Weitwanderwege.

Epilogus

Es war schön! Das Wetter war klasse. Der verregnete Morgen war das Salz in der Wettersuppe. Die Landschaft unspektakulär. Bis auf die üblichen Spaziergänger und Jogger ist mir kein Wanderer über den Weg gelaufen. Das mag daran gelegen haben, dass ich unter der Woche unterwegs gewesen bin (Mi. – Fr.) und die Fußball-WM wird auch den Einen oder die Andere vom Wandern abgehalten haben.

Mal ehrlich! Nerven die breiten und oft geraden Wege da oben nicht? Nö, ist halt ’ne alte Kulturlandschaft. Die Land- und Forstwirtschaft hat hier für das äußere Erscheinungsbild gesorgt. Dafür gibt es unverbaute Blicke ins Land. Okay, okay – die Etappen über die Landstraßen... Der Verkehrslärm hat es an ein paar Stellen auch bis hinauf in den Hunsrück geschafft, aber nur an wenigen Stellen. Ein zwar oft gerader, vielleicht deshalb auch ehrlicher Weg. Sofern es so etwas gibt.

Und? Geht es wieder auf den Hunsrück? Ja! Da warten noch einige Weitwanderwege. Fast alles „kurze“, so um die 100 Kilometer. Ideal fürs lange Wochenende oder für einen kleinen Leistungs- oder Materialtest ... Die großen Wälder da oben, die zwischen dem Rhein und dem Saarland, in die zieht es mich nicht, die versuche ich zu umgehen, aber in die offenen Landschaften und die kleinen, von keinem Dorf- und Stadtplaner berührten Dörfer. Nicht zu vergessen die „Großstädte“ Simmern, Kirchberg, Morbach und Hermeskeil. Auch weil hier das Leben nicht pulsiert. Oder gerade deshalb.

Appendant

Beatus ille, qui procul negotiis. – Glücklich der, der fern von Pflichten ist.
Citius, altius, fortius. - Schneller, höher, weiter.
Errare humanum est. – Irren ist menschlich.
Perfer et obdura! - Halte durch und sei hart!

Gewanderte Strecke:

1. Tag: Bingen – Dichtelbach – Rheinböllen – Simmern - Kirchberg – Ausonius-hütte ca. 49 km

2. Tag: Ausoniushütte – Belginum – Weinplatz – Sportplatz Horath (ab hier Moselhöhenweg) – Papiermühle – Dhrönschen – Trittenheim ca. 48 km

3. Tag: Trittenheim – Dhrönschen – Fünfseenblick – Riol – Ruwer – Trier ca. 37 km

Wegbeschreibung:

Berthold Staudt, „Die Ausoniusstraße – Eine römische Wanderstraße im Hunsrück“, erhältlich im Archäologiepark Belginum „www.belginum.de“ und bei der Gemeindeverwaltung in Morbach/Hs.

Mehr Infos zum Weg bei www.wanderbares-deutschland.de

PS: Nur damit keine Missverständnisse aufkommen. Ich bin weder ein alter noch ein neuer Lateiner. Die Zitate haben mir das Internet geliefert, meist die Wikipedia. Die Freundinnen und Freunde dieser alten Sprache mögen mir die Fehler nachsehen.

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