Auf eines kann man sich verlassen: Die von offiziellen Institutionen markierten Fernwanderwege in Italien - oder jedenfalls in den italienischen Gebieten, die ich gut kenne, von Ligurien bis zur Amalfiküste - sind meistens unbrauchbar. Der Sentiero Italia existiert abschnittweise nur auf dem Papier, in der Realität ist er oft unzureichend markiert oder einfach nicht vorhanden. Die Via Francigena verläuft zu rund 40% auf Asphaltstrecken, gelegentlich auf stark befahrenen Straßen, ist zudem oft kaum markiert. Die Alta Via dei Monti Liguri nimmt keine Rücksicht auf Übernachtungsmöglichkeiten; wer nicht mit dem Zelt unterwegs ist, muss am Etappenende manchmal stundenlang zur nächsten Unterkunft absteigen und am nächsten Morgen auf gleichem Weg wieder zurück. Florenz-Siena, vom italienischen Alpenverein CAI markiert, führt - oft lange über Asphalt - in Mittelgebirgslagen durch die Wälder. Von der Bilderbuch-Toskana der Ölbaumhaine und Weinberge sieht man dabei viel zu wenig. Der Sentiero dei Briganti, eine gut markierte Strecke im nördlichen Latium in der Gegend des Bolsena-Sees, ist über weite Abschnitte einfach zu langweilig. Bleiben als empfehlenswerte Touren der ordentlich markierte, landschaftlich sehr schöne Sentiero degli Ulivi zwischen Assisi und Spoleto in Umbrien und die großartige Tour durch die Südtoskana von Montalcino bis Pitigliano. Dazu kommt dann eine ganze Reihe nicht markierter Strecken, die man nur mit Hilfe von Karten und Wanderführern findet (eine Liste der empfehlenswerten Touren steht auf www.italienwandern.de/Ueberblick.html).
Und eine große Ausnahme: Der Grande Anello dei Sibillini (Rundwanderweg der Monti Sibillini, abgekürzt GAS) ist absolut verlässlich markiert und vor allem: Auf der Strecke von 120 km gibt es nicht das geringste Teilstück, das nicht landschaftlich angenehm, spannend, begeisternd wäre. Die Streckenführung ist schlicht und einfach großartig. Es liegt an der Landschaft, gewiss: Der Nationalpark der Monti Sibillini zeigt eine von Zivilisationsschäden fast unberührte Natur, eine Aufeinanderfolge von Wäldern, Bergwiesen, Kalkfelsen, Zweitausendergipfeln, Schluchten, Bächen, malerischen Dörfern. Es liegt aber auch am „Designer“ dieses Wegs, Alberico Alesi, der mit großem Feingefühl die äußerst abwechslungsreiche Wegführung ausgewählt hat.
Die Sibillinischen Berge
Die Monti Sibillini befinden sich im Zentrum der italienischen Halbinsel im Hinterland der Adriaküste, im Gebiet der Regionen Umbrien und Marken. Mit Linienbussen sind sie von Rom aus in dreieinhalb Stunden erreichbar. Mit ihren markanten Kalkformationen gehören die Sibillinischen Berge geologisch zu den sich südlich anschließenden Abruzzen. Die Ausdehnung beträgt etwa 40 km von Norden nach Süden, 20 km von Westen nach Osten. Der höchste Berg ist der Monte Vettore mit 2476 m. Seit 1993 steht das Gebiet als Nationalpark unter Naturschutz. Da es auch vorher kaum touristisch erschlossen war, blieb es landschaftlich fast unversehrt. Nur an ganz wenigen Stellen finden sich unerfreuliche Hotelbauten, Ferienhäuser oder Skianlagen. Stärker besuchte Orte sind nur die Kleinstadt Norcia und das auf 1452 m gelegene Dorf Castelluccio, beide im umbrischen Teil des Gebirges.
Die spektakulär schöne Hochebene von Castelluccio, der „Piano Grande“, ist das bekannteste Gebiet der Monti Sibillini. Kilometerweit erstreckt sich dieser völlig ebene Altopiano - ehemals der Grund eines ausgedehnten Sees - ohne einen Baum oder einen Strauch. Das Landschaftsbild ist besonders eindrucksvoll während der Blütezeit im Juni. Dann wird es voll hier oben: Italienische Ausflügler kommen vor allem am Wochenende zu Tausenden in die einsame Gegend. Beliebt ist Castelluccio auch bei Drachenfliegern, denen es optimale Bedingungen bietet.
Seit jeher hat das Gebirge den Ruf des Magischen und Geheimnisvollen. Der Name leitet sich von der Zauberin Sibylle her, die in einer Höhle am Monte Sibilla lebte. Man konnte sie, so glaubten Gelehrte und Abenteurer vergangener Jahrhunderte, in ihrem unterirdischen Reich besuchen und dort ein paradiesisches Jahr verbringen; riss man sich aber nicht vor Jahresfrist los, so blieb man bis zum Tag des Jüngsten Gerichts dort gefangen, unter weniger angenehmen Bedingungen. Die magische Grotte diente möglicherweise Richard Wagner als Vorbild für den Venusberg in der Oper „Tannhäuser“.
Ein weiterer verhexter Ort im Gebirge war der Pilatus-See am Hang des Monte Vettore. Nach der Überzeugung der Einheimischen lebten hier Dämonen und Teufel. Als besonders frevelhaft galt es, Steine in den See zu werfen; dann fühlten sich die Teufel provoziert und entfesselten gewaltige Unwetter.
Der Weg
Offiziell besteht der Weg aus neun Etappen. Am Zielpunkt jedes Abschnitts will die Nationalparkverwaltung eine Wanderherberge einrichten. Bisher sind aber nicht alle dieser Unterkünfte eröffnet, und außerdem werden bei der Einteilung in neun Wanderungen manche Tagestouren viel zu kurz. Fünfeinhalb Tage scheinen mir für die Fernwanderung angemessen; dann ist man täglich etwa sechs bis sieben Stunden unterwegs (reine Wanderzeit, Pausen kommen dazu), mit Anstiegen um 1000 Höhenmeter.
Informationen zur Tour zu bekommen, ist nicht ganz einfach. Die Website des Nationalparks ist am ausführlichsten, aber man muss schon gut italienisch können, um sie zu lesen (www.sibillini.net/chiedi_sibilla/gas). Eine hervorragende Broschüre - ebenfalls vom Nationalpark herausgegeben - mit allen nötigen Informationen wurde auch auf englisch veröffentlicht, war aber 2007 nirgendwo mehr aufzutreiben. Nach meiner eigenen Wanderung im Juni 2007 habe ich alle für die Durchführung notwendigen Informationen ins Internet gestellt (www.italienwandern.de/Marken/Wandern2.html), u.a. zur Anreise, Unterkünften, Einteilung der Etappen, Kartenmaterial. Im folgenden Bericht verzichte ich auf diese praktischen Hinweise, die man im Internet nachlesen kann.
Fünf Tage zwischen Visso und Norcia
Anreise
In den Monti Sibillini bin ich schon mehrfach gewandert. Ich habe eine Vorstellung von der Landschaft, aber keine Ahnung von Wegführung und Wegbeschaffenheit des GAS. Meine bisherigen Erfahrungen mit offiziellen italienischen Weitwanderstrecken stimmen mich eher skeptisch (s. oben). Da ich nirgendwo verlässliche Informationen finde (die Website des Nationalparks kannte ich vor der Wanderung nicht), gehe ich mehr oder minder auf gut Glück los. Allerdings habe ich die Karte „Parco Nazionale dei Monti Sibillini“ (1:25.000) von SER Folignano dabei. Sie soll sich als große Hilfe erweisen: extrem genau und sehr auf den Fernwanderweg bezogen. Kein Wunder: Der kleine Verlag SER wird u.a. von Alberico Alesi geführt, der den Weg entworfen hat.
Die Anreise führt nach Rom, von dort mit dem Bus nach Visso. Visso ist eine überraschend hübsche Kleinstadt am Rand der Sibillini. Der Hauptplatz verströmt viel Charme, es gibt zwei sehenswerte Kirchen. Das monumentale, 12 m hohe Fresko des heiligen Christophorus in der Kirche Santa Maria ist einmalig. Allein die Ohren des gemalten Heiligen, so lese ich, sind einen halben Meter groß. Mehrere Geschäfte bieten die Spezialitäten der Gegend an, vor allem Schinken, Wurst, Schafkäse von den Bergweiden der Umgebung. In der Trattoria Ricchetta gibt es ein hervorragendes Abendessen, regionale Hausmacherküche in bester Qualität, im einzigen Hotel Elena schlafe ich gut, wenn auch nicht ganz preiswert. (Es gibt im Ort auch eine günstigere Zimmervermietung.)
1. Visso - Fiastra
Um sechs Uhr bin ich auf den Beinen, eine Bar öffnet gerade, nach dem Kaffee geht es los. Anstieg in niedrigem Buschwald zwischen leuchtenden Ginsterbüschen, die Sonne kommt langsam über die Berge. Auf der Höhe gelangt man in offenes Gelände, ich blicke weit übers Land. Markant steht im Südosten das imposante Felsmassiv des Monte Bove. Das Santuario di Macereto taucht auf. Eindrucksvoll und einsam liegt die Renaissancekirche in der Landschaft. Die Kirche ist offenbar ein Ausflugsziel für Motorrad-fahrer (die kurvigen Bergstraßen rufen!) und Familien, die bereits am Vormittag die Vorbereitungen für ausgiebige Picknicks treffen.
Hinter dem Santuario finde ich mich gleich wieder in der Einsamkeit. An der Flanke des Monte Banditella führt der Weg nach Norden. Die Wanderherberge des Dorfs Cupi ist das offizielle erste Etappenziel - das wäre gerade eine Halbtageswanderung. Ich beschließe, zwei Etappen zusammenzufassen und folge kurz vor Cupi der ausgeschilderten Abkürzung nach Fiastra. Ein steiler Anstieg, dann geht es am Hang in Höhenlagen um 1300 m weiter. Ein Panoramaweg, was allerdings heute eher zu ahnen als wirklich zu sehen ist. Zwar blickt man weit ins Land, aber der Hitzedunst lässt alle Farben verblassen und die Konturen verschwimmen. Die Temperaturen sind weit höher als für die Jahreszeit üblich. Selbst in diesen Höhenlagen spüre ich die schwüle Hitze. Kein Vergleich allerdings mit den 35 Grad gestern in Rom!
Plötzlicher Szenenwechsel: 700 m unterhalb erscheint der blaue Wasserspiegel des Lago di Fiastra. Ein langer Abstieg führt hinab, mit ständigem Ausblick auf den See und die malerischen kleinen Dörfer und verstreuten alten Weiler an seinen Ufern. Oberhalb des Ortes Fiastra gelange ich zu einer neuen Wanderherberge. Ich habe allerdings schon ein Zimmer im Dorfhotel vorbestellt und steige weiter ab zum Ortszentrum. Im Dorfladen fülle ich meine Proviantvorräte auf - erst am übernächsten Tag werde ich wieder auf ein Geschäft treffen. Freundlicher Empfang in der Osteria del Lago, eine romantische halbe Stunde in der Abendstimmung am nahen Seeufer, und dann wieder ein gutes Abendessen. Ruhig wird es danach noch nicht: Vor meinem Zimmer schwatzen bis kurz vor Mitternacht die Einheimischen.
2. Fiastra - Rifugio Città di Amandola
Wieder ein früher Aufbruch, wieder eine gerade geöffnete Bar für den ersten Kaffee. Langer Anstieg in der morgendlich frischen Luft, herrliche Blicke auf den See und die Berge. Stundenlang begegnet mir kein Mensch, kein Haus steht am Weg. Am späten Vormittag wird langsam wird die Hitze spürbar, selbst auf 1500 m Höhe. Lange Rast auf einer ausgedehnten Bergwiese. Die vielen gerade verblühten Blumen lassen ahnen, wie es hier vor 14 Tagen ausgesehen hat: ein Meer von Farben. Die Hauptblütezeit lag dieses Jahr wegen des heißen Frühjahrs etwa zwei Wochen früher als sonst, schon Ende Mai und Anfang Juni.
Ich freue mich auf den nächsten Ort Pintura di Bolognola, die Einkehr in der Bar, vielleicht ein angenehmes Hotel. Wenn mir das Dorf gefällt, denke ich, werde ich dort übernachten. Es ist zwar erst früher Nachmittag, aber immerhin habe ich fünfeinhalb Stunden Weg und fast 1200 m Anstieg hinter mir. Und dann ist Pintura di Bolognola ein Geisterort. Ein paar Dutzend hässliche Ferienhäuser, zwei geschlossene Hotels, ein paar Lifte, kein Mensch zu sehen. Hier ist offenbar nur in der Skisaison und im Hochsommer etwas los. Ich rette mich in den Schatten eines geschlossenen Gasthauses, tröste mich mit dem hervorragenden Schafkäse aus meinen Proviantvorräten. Trinkwasserprobleme gibt es zum Glück nicht - überall am Weg stößt man auf Brunnen und Quellen.
Noch eine lange Pause in der Mittagshitze, und dann geht es weiter. In drei Stunden Entfernung steht das Hotel Madonna dell’Ambro, das ich bereits von einer früheren Tour kenne. Ich melde mich per Mobiltelefon an - nochmal möchte ich heute nicht vor verschlossenen Toren stehen, und schon gar nicht am Abend. Nach dem langen Anstieg geht es nun bequem und aussichtsreich auf einem breiten Weg oberhalb einer Schlucht abwärts. Unterwegs begegnet mir ein holländisches Paar - die einzigen Fernwanderer, die ich in diesen Tagen treffe.
Oberhalb von Garulla (hier soll 2008 eine Wanderherberge eröffnet werden) verlasse ich den Fernwanderweg und gehe - mit Hilfe der Karte nicht zu verfehlen - in Richtung auf mein vorbestelltes Hotel. Auf der Karte sehe ich, dass auf halber Strecke eine Hütte des italienischer Alpenvereins CAI steht. Ich rechne nicht damit, dass sie an einem Wochentag außerhalb der Saison geöffnet ist. Und dann die Überraschung: Das Rifugio Città di Amandola liegt traumhaft auf einer aussichtsreichen Hochfläche und ist sogar offen. Ich bin für heute genug gewandert, sage dem reservierten Hotel ab und bleibe hier. Die freundlichen jungen Wirtsleute kommen extra von der nahe gelegenen Kleinstadt Amandola hinauf, wenn Gäste angemeldet sind - und das ist heute der Fall. Die beiden Kunden, die noch eintreffen sollen, kommen verspätet, so dass ich mir in der einzigen Dusche Zeit lassen kann. Ein einfaches Abendessen, nette Gespräche und ein Stündchen in der Abenddämmerung auf der großen Wiese neben dem Haus, wo Ausflügler an einer Feuerstelle grillen. Dann eine ruhige Nacht, diesmal in der einsamen Landschaft ohne Gespräche unter dem Fenster.
3. Rifugio Città di Amandola - Colle
Schöner Abstieg in der Morgenfrühe zum markierten Fernwanderweg, auf den ich beim Weiler Capovalle treffe. Auf der heutigen Tour am Ostrand des Gebirges, in Höhenlagen zwischen 600 und 1000 m, liegen mehr Ansiedlungen am Weg als an den ersten beiden Tagen. Bei Piedivalle quere ich das Flüsschen Ambro, dann geht es aufwärts nach Vétice und Tribio. Traumhafte Morgenstimmung, Abstieg durch wildromantische Landschaft zu einer alten Brücke über den Fluss Tenna. Erneut geht es aufwärts, bis zur Häusergruppe Rubbiano. Und hier wird es mir allmählich zu heiß. Die alte Faustregel trifft wieder zu: Oberhalb von 1000 m kann man in Italien noch mit Genuss wandern, selbst wenn in der Ebene die Temperaturen auf 35 Grad steigen. Aber in tieferen Lagen macht es dann irgendwann keinen Spaß mehr, jedenfalls nicht über Mittag. Hinter Rubbiano hebe ich an einem Sträßchen den Daumen. Das erste Auto hält und nimmt mich die fünf Kilometer mit bis zum nächsten Ort Montemonaco. Das Städtchen hat alles, was zu einer italienischen Kleinstadt gehört: ein paar historische Gebäude, Bar, Restaurant, Hotel, gute Lebensmittelgeschäfte. Und außerdem eine fantastische Lage am Rand des Gebirges. Ich plane eine lange Mittagspause, kehre ein, blättere zum ersten Mal nach Tagen durch die Zeitung, nutze die ungewohnt reichhaltigen Einkaufsmöglichkeiten: Kuchen in der Bäckerei, Obst, Auffüllen der Wurst- und Käsevorräte, Sonnencreme.
Nach drei Stunden geht es weiter. Es ist immer noch heiß, aber so spannend ist Montemonaco auch wieder nicht, dass ich den Rest des Tages hier verbringen möchte. Beim Abstieg ins Aso-Tal stört die Wärme nicht, und als ich unten ankomme, beginnt es überraschend zu regnen. An der Kirche Santa Maria in Casalicchio stelle ich mich unter, der Schauer zieht schnell vorbei.
Der Aufstieg nach Altino ist schattig und schön. Ich überlege, in dem Dorf zu übernachten, aber das kleine Hotel ist geschlossen. Also weiter, trotz unsicherer Wetterlage. Der Monte Vettore, mit 2476 m der höchste Gipfel der Sibillini, kommt in den Blick. Unterhalb zieht sich mein Weg durch Wald und über Bergwiesen bis Colle. Obwohl das Dörfchen nur aus wenigen Häusern besteht, brauche ich eine Weile, um meine Unterkunft zu finden - die Herberge ist nur an einem winzigen Schild zu erkennen.
4. Colle - Forca Canapine
Die Sonne strahlt, aber sie brennt nicht mehr wie an den Vortagen, es ist etwas kühler geworden, und vor allem: Die Aussicht ist nun gestochen scharf. Ideales Wanderwetter. Bei jedem Schritt begeistert das Panorama, man blickt weit über das Hügelland der Marken, den Flickenteppich der Felder und kleinen Wäldchen, die zahlreichen alten Orte auf den Hügeln. Ein Panoramaweg war auch die bisherige Strecke, aber an den vorangehenden Tagen schränkte der Hitzedunst das Panorama ein. Nun kommt es voll zur Geltung. Zwischendurch geht es dann lange durch Wald, das Sonnenlicht bricht nur gebrochen durch die Zweige, am Weg rauschen kleine Bäche. Nach Westen wird immer wieder der Blick frei auf den Monte Vettore, der unmittelbar über der Wanderstrecke emporragt.
Unterhalb des Passes Forca di Presta stößt der Weg auf eine Straße. Nach Süden öffnet sich ein neues Panorama: Jenseits des tief eingeschnittenen Tronto-Tals sind nun die Berge der Abruzzen ganz nah. Es geht ein Stück auf dem wenig befahrenen Sträßchen bergauf, am Pass steht die Berghütte Rifugio degli Alpini. An der Bar gibt’s Kaffee, aus der Küche kommen schon die Aromen des Mittagessens. Die Hütte wird viel besucht, sie ist Ausgangspunkt für die Besteigung des Monte Vettore und den beliebten Ausflug zum Lago di Pilato.
Inzwischen fegt ein scharfer Wind über den Kamm, zum ersten Mal auf dieser Tour brauche ich tagsüber den Pullover. Der Fernwanderweg führt ohne größere An- und Abstiege auf der Kammhöhe weiter. Beim nächsten Pass, der Forca Canapine, stehen ein paar Skilifte in der einsamen Landschaft, einige Hotels, wenige Ferienhäuser und mehrere Berghütten, darunter eine neue Wanderherberge des Nationalparks. Schon in Fiastra hat sich mir die Frage aufgedrängt, ob es wirklich eine gute Idee der Nationalparkverwaltung ist, Wanderherbergen auch dort zu errichten, wo schon Unterkünfte bestehen? In einem Gebiet, das nun wirklich nicht von Touristen überlaufen ist, sollten ökonomische Vorteile des Fernwanderwegs doch zunächst einmal den bestehenden Strukturen - Hütten, Hotels, Privatvermietern - zugute kommen. Staatlich subventionierte Unterkünfte neu zu errichten hat doch wohl nur dort einen Sinn, wo die Wanderer keine andere Übernachtungsmöglichkeit finden. In den Monti Sibillini sieht es im Moment teilweise genau umgekehrt aus: Zwei Wanderherbergen sind fertig gestellt an Orten, an denen man genauso gut in anderen Unterkünften schlafen kann - und geplante Herbergen existieren dort nicht, wo sie dringend gebraucht würden.
Ich übernachte im Rifugio Vittorio Ratti, ein paar hundert Meter vom Fernwanderweg entfernt direkt am Canapine-Pass. Gutes Abendessen, nette Gespräche mit den Wirten und den wenigen anderen Gästen, einen Schlafsaal habe ich für mich allein.
5. Forca Canapine - Norcia
Das Wetter bleibt hervorragend, die Aussicht überwältigend. Der Weg führt weit oberhalb des Piano Grande entlang, der großen Hochfläche der Sibillini. Mit ihren ungewöhnlichen Formen erinnert sie an außer-europäische Landschaften, an die kargen Berge Anatoliens oder die Altipiani der Anden.
In der Ferne thront das Dorf Castelluccio auf einer Anhöhe, einer der höchstgelegenen ganzjährig bewohnten Orte Italiens. In Castelluccio herrscht im Sommer einiger touristischer Betrieb, hier oben auf der Höhe aber ist es völlig einsam. Bis zum Pass Forca di Giuda folge ich dem Grande Anello, immer mit großartiger Fernsicht.
Von der Forca di Giuda sind es noch zwei Stunden bis zur nächsten Wanderherberge in Campi Vecchio, von Campi Vecchio noch ein halber Wandertag bis zum Ausgangspunkt Visso. Da ich diesen Abschnitt schon früher gewandert bin, steige ich ab nach Norcia. Mein Versuch, dabei dem auf der Karte eingezeichneten Sentiero Italia zu folgen, schlägt fehl: Er existiert einfach nicht. Das ist keine Überraschung, sich auf den „SI“ zu verlassen, ist erfahrungsgemäß russisches Roulette. Es geht trotzdem problemlos ins Tal: auf dem Weg 181 bis zur Forca d’Ancarano, dann auf einer Variante des SI - die diesmal erfreulicherweise wirklich existiert - nach Norcia.
Norcia ist der mit Abstand meistbesuchte Ort des Gebiets. Das Städtchen ist die Heimat des heiligen Benedikt („Benedikt von Nursia“), wird heute aber vor allem als kulinarisches Einkaufsparadies besucht. In der Hauptstraße steht ein Feinkostgeschäft neben dem anderen. Ausflügler aus der weiteren Umgebung - bis hin nach Rom - kommen am Wochenende hierher, um etwas Bergluft zu schnuppern und sich mit Käse, Fleisch, Schinken einzudecken. Die Atmosphäre ist dennoch reizvoll geblieben, das Städtchen hat einige hübsche alte Bauten, die Stimmung ist ruhig. Ein schöner Abschluss der Tour - und mit direkten Linienbussen kommt man bequem zurück nach Rom.
Fotos: Georg Henke