Es gibt zwar zahlreiche Möglichkeiten, die Alpen zu Fuß zu überqueren, aber einige könnte man als „klassisch“ bezeichnen. Da wären zunächst die „Mutter“ aller Alpenüberquerungen von Oberstdorf nach Meran, dann natürlich der Traumpfad von München nach Venedig, die Traversalen vom Bodensee zum Lago Maggiore und vom Genfer See nach Nizza und schließlich die Route vom Tegernsee nach Sterzing. Die ersten vier habe ich schon vor etlichen Jahren gemacht, als ich noch „jung und schön“ war, die letzte hingegen habe ich mir für meine alten Tage aufgespart. Sie ist die kürzeste von allen, ihre technischen und konditionellen Anforderungen sind nicht so hoch wie bei den anderen, man ist nicht auf Hütten angewiesen sondern kann komfortabler in Hotels oder Pensionen übernachten und sie erfordert auch mal die Nutzung von Bus, Zug und Seilbahn. Sie ist also alles in allem seniorengerecht, auch wenn man sie nicht unterschätzen sollte. Auf geht’s zur Alpenüberquerung vom Tegernsee nach Sterzing.
1. Etappe: Von Kreuth nach Achenkirch
Die offiziell erste Etappe dieser Tour schenke ich mir. Gmund – Tegernsee – Rottach-Egern – Kreuth das wäre gleichbedeutend mit annähernd 20 Km Asphalt entlang des Tegernsees, wo sich Hotels, Boutiquen, Gasthöfe, Andenkenläden, Cafés und was des Touristen Herz sonst noch höher schlagen lässt in endloser Folge aneinanderreihen. Das ist für mich nicht so der rechte Auftakt für eine Weitwanderung. Also fahre ich am Nachmittag von Gmund noch mit dem Bus nach Kreuth ans südliche Ende des Tegernsees. Hier ist es schon deutlich ruhiger.
Der Ort wird überragt von der katholischen Pfarrkirche St. Leonhard, 1491 im gotischen Stil erbaut und umgeben von einem hübschen Kirchhof mit schönen Grabkreuzen.
Eine besondere Beziehung zu Kreuth hatte Thomas Mann. Als Kind und Jugendlicher weilte er dort häufig mit seinen Eltern und war in späteren Jahren dort auch häufig zur Sommerfrische. Etliche seiner Werke sind in Kreuth entstanden oder fertiggestellt worden, so etwas „Tonio Kröger“ und „Doktor Faustus“.
Hier starte ich am nächsten Morgen meine erste Etappe, auf einem wunderschönen und landschaftlich reizvollen Weg gemütlich entlang der Weißach bis mich ein Wegweiser mit einem „Ü“ auf schwarzem Grund – dieses Zeichen wird mich auf meiner gesamten Tour begleiten – nach Wildbad-Kreuth schickt. Einen Besuch der Kuranlage darf ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Schon im Mittelalter nutzten die Mönche des Klosters Tegernsee die heilsamen Schwefelquellen, bis 1818 Maximilian I. Joseph, König von Bayern, zusammen mit dem säkularisierten Kloster Tegernsee auch das Wildbad Kreuth erwarb und das heutige Gebäude errichten ließ. Noble Kurgäste waren unter anderen Kaiser Franz Joseph I., und die Kaiser Nikolaus I. und Alexander I. 1974 pachtete die Hanns-Seidel-Stiftung das Gebäude und nutzte es nach einer Generalsanierung bis 2016 als Tagungshaus und Bildungszentrum. Derzeit wird es nach langem Leerstand zu einem Hotel mit Fokus auf seelische Erholung („Mental-Retreat“) umgebaut. Für einen politisch interessierten Menschen ist Wildbad-Kreuth natürlich mit all den CSU-Parteitagen verbunden, die die anderen Parteien und das politische Establishment der alten Bundesrepublik regelmäßig in Angst und Schrecken versetzten, weil ihr Ergebnisse oft unberechenbar waren, auch wenn sich Vieles im Nachhinein als Theaterdonner entpuppte. Erinnert sei nur an den 1976 in Wildbad Kreuth gefasste Kreuther Trennungsbeschluss, der die Kooperation mit der CDU aufkündigte aber schnell wieder zurückgenommen wurde.
Es war schon recht erinnerungsträchtig, einmal persönlich an diesem Ort zu stehen, der in der politischen Sozialisation vieler Menschen meiner Generation im Westen Deutschlands eine gewisse Rolle gespielt hat, gerade auch weil heute doch Spuren des Verfalls nicht zu übersehen sind.
Direkt hinter Wildbad-Kreuth ist dann erst mal Schluss mit Vergangenheitsbewältigung. Die Gegenwart des Weges fordert die notwendige Aufmerksamkeit. Vier Stunden – man kann es auch in Dreien schaffen - geht es jetzt für mich meist steil bergauf durch wunderschöne alpine Landschaft mit Wald, Almen und Hochmooren. Ein plötzlicher Wetterumschwung trägt ein Übriges zur Dramatik bei. Ist es anfangs noch sonnig und warm, zieht, je höher ich komme, immer schneller dräuendes Gewölk auf, begleitet von heftigen kühlen Winden, und so bin ich heilfroh, als ich am höchsten Punkt dieser Etappe auf 1600 m endlich in der Blaubergalm unterschlüpfen kann. Und ich bin nicht der Einzige, der in dieser kleinen und urigen Almhütte bei einer wohlverdienten Verschnaufpause Stärkung für den Weiterweg sucht. Hier kommen alle angebotenen Produkte aus eigener Herstellung und haben daher durchaus ihren Preis. Aber wer fragt in einer solchen Lage schon, ob eine Speckbrotzeit einen Euro mehr oder weniger kostet.
Mit neuem Mut geht’s nun immer bergab. Gleichzeitig geht’s mit dem Mut aber auch bergab und er mündet alsbald in Fatalismus. Drei Stunde auf einer schotterigen Forststraße ständig talwärts hatschen das zermürbt selbst die stärksten Sehnen und Gelenke und wenn dann noch ein starkes Gewitter und sturzbachartige Regenfälle einsetzen, sinkt die Stimmung schnell unter NN. Vollkommen durchnässt in Achenwald angekommen, sehe ich an einer Bushaltestell einen Trupp Wandersleut warten. Auf meine Nachfrage stellt sich heraus, dass sie auch auf der Strecke „Tegernsee – Sterzing“ unterwegs sind aber mit einer vorgebuchten Tour und Gepäcktransport und in 10 Minuten sollen sie hier von einem Bus abgeholt und nach Achenkirch, dem heutigen Etappenziel, gebracht werden. Flugs mache ich mich zu einem von ihnen und kann mir so die letzten 6 km Fußmarsch im Regen ersparen und das auch noch kostenlos. Der Heilige St. Bernhard, der Schutzpatron der Wanderer wird ein Auge zudrücken. Es gibt eben beim Weitwandern auch in finsteren Situationen immer mal wieder kleine Lichtblicke.
2 Etappe: Von Achenkirch nach Maurach
Nach den Herausforderungen der ersten Etappe will ich es auf der zweiten etwas gemütlicher angehen lassen. Heute will ich auf dem Gaisalm- und Mariensteig unterwegs sein, ohne große Höhenunterschiede entlang des Achensees, einem der schönsten Wanderwege Tirols. Aber erstmal muss ich zum Achensee hin. Unglücklicherweise hatte ich ein Zimmer ganz am anderen Ende von Achenkirch gebucht und so muss ich zunächst den ganzen Ort durchqueren – und das zieht sich mehr als 6 km. Tipp für Nachahmer: Direkt am See buchen! Nach knapp 11/2 Stunden Vorlauf dann endlich am See der Einstieg in den Gaisalmsteig und alle Erwartungen werden erfüllt. Es ist ein großartiger schmaler Steig zwischen Fels und See, bei Gegenverkehr manchmal etwas eng, der zwar Trittsicherheit und an einigen Stellen Schwindelfreiheit erfordert, aber in stetem Auf und Ab wunderbar zu gehen ist. Immer mit Blick auf den See und das gegenüberliegende Rofahngebirge führt er in ca. 11/2 Stunden zur herrlich direkt am Seeufer gelegenen Gaisalm. Hier kann man gut Mittag machen, auch wenn sie gut besucht ist, ist sie doch im Stundentakt auch mit den Booten der Achenseeschifffahrt erreichbar.
Ein heftiger Gewitterregen lässt mich die Pause noch bis zu seinem Abklingen verlängern, bevor ich mich dann erneut auf den Weg mache, der ab hier Mariensteig heißt und genau so spektakulär ist wie der vorhergehende Abschnitt. Immer wieder kreuzt er breite Schotterlawinen, die aus dem Karwendel heruntergekommen sind, möglicherweise eine Folge des Klimawandels.
Kurz vor Pertisau mündet der Mariensteig in eine breite Uferpromenade, was wohl viele schon verleitet hat, aus dieser Richtung kommend, mit völlig ungeeignetem Schuhwerk den Mariensteig begehen zu wollen, trotz etlicher Warntafeln, die darauf hinweisen, dass solcher Leichtsinn schon öfter ein böses Ende genommen hat. Pünktlich zu meiner Ankunft in Pertisau setzt wieder Regen ein und da ich meine Weitwanderungen ohnehin wenn möglich gerne mit einer Schifffahrt unterbreche, lasse ich mich von der Achenseeschifffahrt zum Seeende bringen. Von dort geht’s dann noch mal eine Stunde mit Wasser von oben zum Hotel nach Maurach. Bis morgen wird schon alles wieder trocken sein, so dass ich mich guter Dinge den Schmankerln der österreichischen Küche zuwenden kann.
3. Etappe: Von Maurach nach Hochfügen
Als ich am Morgen nach dem Aufwachen aus dem Fenster schaue, sieht die Welt irgendwie seltsam aus. Dann dämmert mir: Man sieht absolut nichts; alles ist in dicken Nebel gehüllt. Als erfahrener Alpinist weiß ich natürlich, dass, wenn die Täler in Watte gepackt sind, auf den Höhen strahlender Sonnenschein herrscht und da ich mich heute überwiegend auf 2000 m zu bewegen gedenke, mache ich mich äußerst optimistisch auf den Weg (von Wetterapps lass ich mir ja nicht die Laune verderben). Heute ist erst mal ein wenig Fahren angesagt: Zunächst mit dem Bus nach Jenbach, dort umsteigen in die Zillertalbahn nach Fügen. Von dort geht es dann mit der Seilbahn hinauf zum Spieljoch, nicht ohne noch einige schweißtreibende Kilometer durch den Ort bis zur Talstation gelatscht zu sein. Natürlich herrscht hier immer noch dicker Nebel aber nun geht’s ja zügig bergauf auf annähernd 2000 m und ich werde die Suppe unter mir lassen. An der Mittelstation hat sich die Wetterlage allerdings nur unwesentlich verändert, zum Nebel ist noch Niesel hinzugekommen. An der Bergstation dann dasselbe Bild und so hat sich meine Hoffnung mal wieder als eher nebulös und trügerisch erwiesen.
Mit dem Gedanken, es kann ja nur besser werden, marschiere ich los. Als ich die Seilbahnstation, bei der noch einigermaßen Betrieb war, entlang eines Hanges auf schmalem Pfad hinter mich gelassen habe, beschleicht mich das seltsame Gefühl, hier oben nun völlig allein unterwegs zu sein. Es ist schon komisch, wenn man außer den eigenen Schuhspitzen nichts sieht und der Nebel auch noch alle Geräusche zu verschlucken scheint. Laut Wanderführer verläuft der Weg durch eine wunderschöne Gegend, aber jetzt reicht auch meine Phantasie nicht hin, mir das auszumalen. So trotte ich also vor mich hin bis nach etwa 11/2 Stunden die Gartalm aus dem Nebel auftaucht. Hier treffe ich dann einige Leute wieder, mit denen ich vorgestern schon im Bus nach Achenkirch gesessen habe. Ich war also glücklicherweise doch nicht das einzige menschliche Lebewesen auf dem Weg. Jetzt gibt’s gegen die Suppe draußen erst mal eine warme Suppe drinnen. Als ich wieder aufbreche, hat sich der Nebel ein wenig gelichtet aber der Nieselregen begleitet mich weiter bis zum Loassattel. Hin und wieder ist sogar auch mal ein kurzer Blick in die umgebende Landschaft möglich und bestätigt die Behauptung meines Wanderführers, hier bei guter Sicht auf einem sehr schönen Weg unterwegs zu sein.
Vom Loassattel, wo man noch einmal einkehren könnte – hier soll es exzellente Riesenschnitzel geben -, führt dann ein gut ausgebauter Forstweg, kein Schotter und bequem zu gehen, in gut einer Stunde nach Hochfügen, meinem heutigen Etappenziel. Hochfügen ist eigentlich kein Ort sondern eine Wintersportretorte, in der, vermutlich als Zugeständnis an die Alpenüberquerer, im Sommer ein Hotel und ein Restaurant mit Café geöffnet haben und sich dieses auch gut bezahlen lassen.
4. Etappe: Von Hochfügen nach Mayrhofen
War die gestrige Etappe der Einstieg ins Zillertal so führ die heutige in dessen Herz, die Tuxer Alpen. Als sich am Morgen der Vorhang über diese Etappe hebt, ist das Stück, das gegeben wird, erstmal dasselbe wie am Vortag: Man sieht wieder – nix. Aber der Wetterbericht, den das vorsorgliche Hotelpersonal auf meinem Frühstückstisch platziert hat, verheißt für den Tag immerhin längere Trockenperioden und sogar zeitweisen Sonnenschein. Ich verstaue also mein Regenzeug zunächst im Rucksack - irgendwann muss Optimismus doch auch mal belohnt werden – und mache mich an einen recht passablen Aufstieg, 800 Höhenmeter auf 7 km Stecke. Die Sonne lässt noch auf sich warten, das tut sie, nebenbei bemerkt, fast den ganzen Tag, aber das ist nicht weiter schlimm, denn der heftige Aufstieg bis fast hinauf zum Kreuzjoch auf über 2300 m ist eh schon schweißtreibend genug. An einem Kamm oberhalb der Rastkogelhütte muss man sich entscheiden: Wenn das Wetter o.k. ist und man hundertprozentig trittsicher und schwindelfrei ist, kann man mit großartigem Panoramablick auf den Alpenhauptkamm und vorbei an zahlreichen Lagunen direkt über das Kreuzjoch, den Mittenwands- und den Rauhenkopf zum Melchboden wandern. Da es aber mittlerweile wieder begonnen hat, leicht zu regnen, die Sicht nicht gerade toll ist, und ich auch für meine hochalpinen Kompetenzen meine Hand nicht unter allen Umständen ins Feuere legen würde, entscheide ich mich für die zweite Variante. Vom Kamm aus steuere ich die Rastkogelhütte an, zumal sich unmissverständlich ein Bedürfnis nach Atzung und einer geruhsamen Pause im Trockenen gemeldet hat.
Ausgeruht und gestärkt geht es von der Hütte zunächst auf einem ausgebauten Weg weiter, bis dann, von diesem abgehend, ein schmaler markierter Pfad kurz aber steil zum Mittwandskopf hinaufführt. Ich erreiche so ebenfalls den Panoramaweg, habe aber die heikle Passage am Kreuzjoch umgangen. Leider ist das mit dem Panorama aber wieder nicht so weit her. Regen und Nebelschwaden lassen nur eine sehr eingeschränkte Sicht auf die nähere und weitere Umgebung zu – soviel zur Belohnung von Optimismus. An der Jausenstation „Melchboden“ bin ich dann doch heilfroh, dass ich, nach Kaffee und Kuchen, dort in einen Linienbus steigen und mir und meinen Knien die 1400 m Abstieg im Regen nach Mayrhofen, zentral im Hochgebirgspark Zillertaler Alpen gelegen, ersparten kann. Und was soll ich sagen, am Ziel angekommen, lugt doch tatsächlich auch noch die Sonne aus der Wolkendecke hervor. Ein gutes Omen für die nächste Etappe, die Überquerung des Alpenhauptkammes?
5. Etappe: Von Mayrhofen nach Kematen
Es wird schon zur Routine. Der erste Blick morgens aus dem Fenster zeigt wie immer dasselbe: Tiefhängendes Gewölk über der Grasnarbe und Regen. Aber natürlich gibt es auch an diesem Morgen wieder einen Strohhalm „Hoffnung“, an den ich mich klammern kann. Zunächst muss ich nämlich erst einmal mit dem Bus eine Stunde zum Schlegeisspeicher auf 1800 m hinauffahren und da könnte sie Sache doch schon viel besser aussehen. Doch auch dieses Mal erweist sich die Hoffnung als Trugschluss. Ich kenne den See schon von einer früheren Alpenüberquerung. Er bietet normalerweise ein umwerfendes Panorama mit hohen, z.T. schneebedeckten Gipfeln ringsherum, aber davon ist heute nur schemenhaft etwas zu erahnen. Ich bedaure ein wenig die doch zahlreich hier heraufgekommenen Wanderer, zumeist Tagesausflügler mit kleinem Rucksack, die diesen großartigen Anblick nun nicht genießen können. Aber immerhin hat die touristische Infrastruktur hier am See, verglichen mit damals, erheblich zugelegt.
Nachdem ich mich wetterfest gemacht habe, marschiere ich los. Es ist ein sehr schöner und landschaftlich reizvoller Weg, der durch den Zamser Grund, ein eiszeitliches Trogtal, führt und auf dem sich zahlreiche bunte Wanderpunkte bewegen, die immer mal wieder vom Nebel verschluckt werden, um dann kurze Zeit später ein wenig weiter oben wieder aufzutauchen. So geht es stetig und nicht allzu steil bergauf, bis sich dann nach knapp zwei Stunden an der bewirtschafteten Lavitzalm (2100 m) der Strom der Wanderer ganz erheblich ausdünnt.
Da von dort bis zum Pfitscherjochhaus nur noch eine Stunde Gehzeit angegeben ist, entscheide ich mich gegen eine Pause und laufe erstmal weiter, zumal die Etappe noch lang genug ist. Das erweist sich aber bald als Fehler. Da die Sicht sehr schlecht ist und ich nicht weiß, wie gut die Markierung auf dem schmalen und steilen Pfad durch ansonsten wegloses Gelände direkt hinauf zum Pfitscherjoch ist, bleibe ich, wie andere auch, auf dem breiteren, gut erkennbaren Wirtschaftsweg. Dieser erweist sich aber als deutlich länger und als sich dann zu Regen und Nebel noch ein heftiger eisiger Sturm gesellt, was das Fortkommen noch mal massiv erschwert, werden aus einer Stunde Gehzeit gut deren zwei. Ich merke, dass ich mit meinen Kräften nun doch langsam an die Grenze komme und denke, dass eine Pause auf der Lavitzalm, um sich aufzuwärmen und etwas zu essen, die weitaus bessere Wahl gewesen wäre. Ich mache drei Kreuze, als ich endlich das Pfitscherjochhaus erreicht habe.
Allen Gästen sieht man an, dass sie froh sind, jetzt hier ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen und zu Trinken auf dem Tisch zu haben. Draußen trommelt der Regen an die Scheiben, der Sturm tost ums Haus und die eigentlich grandiose Sicht ist gleich Null. Einmal reißt die Nebelsuppe für kurze Zeit auf und alle stürzen mit Aahs und Oohs an die Fenster, um wenigstens einen Blick auf das tolle Panorama zu erhaschen. Die Freude währt aber leider nur ein paar Minuten.
Eine Gruppe junger Leute, die mit mir am Tisch sitzen, entschließt sich spontan, lieber hier auf der Hütte zu übernachten und mir wird ganz mulmig, wenn ich an den noch sehr langwierigen Abstieg bis zu meinem Etappenziel ins Pfitschertal denke, zumal sich an der Wetterlage nichts ändert. Dabei bin ich doch jetzt auf der Alpensüdseite in Bella Italia. Aber wieder hat der Heilige St. Bernhard ein Einsehen mit mir. Eine Wandergruppe am Nebentisch sucht noch jemanden, um einen Shuttlebus ins Tal ordern zu können, der aber nur fährt, wenn er komplett ausgebucht ist. Freudig erkläre ich mich bereit, diese Lücke zu schließen und so erreiche ich wohlbehalten, sogar noch rechtzeitig für Kaffee und Marillentorte, die Alpenrose in Kematen, wo die sehr freundliche Wirtin meine nassen Schuhe und Klamotten gleich in den Trockenkeller verfrachtet. Bis morgen früh aus den Augen aus dem Sinn.
6. Etappe: Von Kematen nach Sterzing
Die heutige Etappe verspricht ein wunderschöner langer Spaziergang zu werden, immer leicht das Pfitschertal bergab bis zu dessen Einmündung ins Eisacktal bei Sterzing. Zum Abschluss spielt auch das Wetter mit, zwar kein strahlender Sonnenschein aber auch kein Regen. Ein laues Lüftchen weht durchs Tal, so dass Anorak und Fleecejacke im Rucksack bleiben können. Der Weg verläuft zwar hin und wieder mal kurzzeitig auf der Bundesstraße, was hier in diesem kleinen Seitental aber an einem Sonntagmorgen kein Problem ist. Ansonsten lässt es sich, durch Wald, Wiese und an rauschenden Bächen entlang leicht und beschwingt dahin schreiten. Einige Bäche muss man allerdings manchmal auch steglos queren, was nach den ergiebigen Regenfällen der letzten Tage immer erst mal eine Suche nach der günstigsten Furt auslöst, aber es ist fast immer halbwegs trockenen Fußes zu schaffen gewesen.
Idyllische Dörfchen wie Wieden, Ried, Tulfer und Prati werden durchquert, so dass bei Bedarf etliche Einkehrmöglichkeiten bestehen. Der Weg führt auch direkt an den Steinbrüchen für den Pfitschergneis vorbei, aus dem hier viele Fassaden und Natursteinmauern errichtet sind. Man überquert den Brennerbasistunnel, an dem in 600 m Tiefe noch bis 2025 gebaut wird und der dann ein Jahr später eröffnet werden soll – aber bei Großbauprojekten weiß man ja nie so genau, wann sie denn wirklich fertig sind. Zahlreiche Kapellen und Wegmarterln künden noch von der zumindest einstmals gelebten tiefen Religiosität in diesem Tal. Kurz vorm Ziel wird noch Schloss Moos passiert, einem der vielen Schlösser und Burgen, die das südtiroler Eisacktal säumen. Zum Schluss geht es noch einmal etwas steiler einen Kreuzweg bergauf, bei dem die einzelnen Stationen durch Zeichnungen von Grundschulkindern illustriert sind. Der Weg endet schließlich bei der Terrasse eines Hotels, von wo aus mir ganz Sterzing, der Endpunkt meiner Alpenüberquerung zu Füßen liegt und wo sich auch schon einige Mitwander*innen, die ich unterwegs immer mal wieder getroffen habe, eingefunden haben. Unter Glockengeläut erreiche ich dann Sterzings gute Stube, kann mich im Sonnenschein in einen Café-Stuhl sinken lassen und einen Cappuccino schlürfen. Genau so hatte ich mir das Ende meiner Alpenübequerung auch vorgestellt.
Vorm Abendessen bleibt noch Zeit, ein wenig die Stadt zu erkunden. Sterzing, ist die nördlichste Stadt Italiens und liegt auf 948 m Meereshöhe. Im Mittelalter wurde hier Bergbau betrieben. So besaß z.B. die Augsburger Familie Fugger ergiebige Silberstollen, die Sterzing Reichtum und Wohlstand brachten. Später war Vipiteno, wie die Stadt auf Italienisch heißt, nicht selten Residenz für Kaiser und Könige. Heute präsentiert sich die mittelalterliche Stadt durchaus modern. Sie ist ein Touristenmagnet an der europäischen Nord-Süd-Achse ohne ihren Ursprung außer Acht zu lassen: Hübsche Erker und Giebel sowie bunte Fassaden zieren die Hauptstraße, die zugleich Shopping- und Flaniermeile ist. Das Wahrzeichen der Stadt ist der Zwölferturm, gekrönt von einem steinernen Treppengiebel. Sehenswert sind außerdem der Mithrasstein, das Stadtmuseum in der ehemaligen Deutschordenskommende sowie die Pfarrkirche mit Kreuzigungsgruppe, dem Taufstein und die für Sterzing geschichtsträchtigen Grabsteine.
Mein persönliches Fazit: Trotz der miesen Wetterverhältnisse eine lohnende Tour, die man sich, vorausgesetzt man fühlt sich fit, auch in einem fortgeschritteneren Alter noch zutrauen kann. Man findet gute Unterkünfte in allen Preislagen und kann die Wanderung auch bei zahlreichen Anbietern ganz individuell mit Gepäcktransport buchen. Ich überlege, sie, wenn die Wetterlage freundlicher und stabiler ist, und der liebe Gott mich gesund bleiben lässt, noch einmal zu wiederholen – das muss bei schönem Wetter und vielleicht dann mit Gepäcktransport noch mal ein ganz anderes Erlebnis sein.
Tegernsee -Sterzing
Etappe: Kreuth - Achenkirch
26 km; 1114 m Aufstieg, 959 m Abstieg
Etappe: Achenkirch - Maurach
16 km, 290 m Aufstieg, 250 m Abstieg
Man kann einen Teilabschnitt der Etappe mit
einem Schiff der Achensee-Schifffahrt zurücklege
Etappe: Maurach - Hochfügen
17 km, 150 m Aufstieg, 600 m Abstieg
Zunächst mit Bus und Bahn nach Fügen,
von dort mit der Seilbahn aufs Spieljoch
Etappe: Hochfügen - Mayrhofen
15 km, 800 m Aufstieg, 200 m Abstieg
Ab Melchboden mit dem Bus nach Mayrhofen
Etappe: Mayrhofen - Kematen
18 km, 550 m Aufstieg, 850 m Abstieg
Zunächst mit dem Bus von Mayrhofen
Zum Schlegeis-Speichersee
Vom Pfitscherjochhaus kann man ggf. auch
mit einem Shuttlebus ins Tal fahren
Etappe: Kematen - Sterzing
16 km, 250 m Aufstieg, 760 m Abstieg
Übernachtung
Hotel, Pension, Ferienwohnung
Übernachtungsmöglichkeiten gibt es, mit Ausnahme in Hochfügen, unterwegs
reichlich, so dass, wenn man nicht gerade in der Hauptferienzeit unterwegs ist, eine
Vorbuchung nicht unbedingt erforderlich ist.
Führer
Ulrike Gaube: Tegernsee - Sterzing
Conrad Stein Verlag, 1. Aufl. 2019
Ein Outdoorhandbuch in bewährter Qualität aus der Reihe „Der Weg ist das Ziel“ Band 435
Karte
Die Alpenüberquerung vom Tegernsee über Achensee
und Zillertal nach Sterzing
Kompass Nr. 2556
(ist nicht unbedingt erforderlich)