Auf Jakobs Pfaden

the-pilgrims-trail-24411921920.jpg

Von Stuttgart nach Santiago de Compostela

Eigentlich ein verrücktes Unterfangen: sich mitten im Berufsleben sechs Monate frei zu nehmen, um von der Haustür aus nach Santiago de Compostela zu pilgern. Manche Freunde haben meinen Mann Horst-Alfred und mich für verrückt erklärt, daß wir freiwillig fast 2400 km laufen wollten. Andere beneideten uns um diese Zeit. Für uns jedenfalls bedeuteten die vier Monate, die wir schließlich unterwegs waren, eine ganz besondere Zeit, die uns in vielerlei Hinsicht bereichert hat: für unser jeweiliges inneres Wachstum, unser Miteinander und die Beziehung zu anderen Menschen.

Am 21.3.2002 schlossen wir unsere Haustüre in Stuttgart ab und liefen los. Am 19.7. erreichten wir die Kathedrale in Santiago de Compostela. Dazwischen lagen unendlich viele Erfahrungen, die mich bereichert haben.

In der Vorbereitung stellte sich die Frage, ob wir den historischen Jakobsweg von Stuttgart über Konstanz, Einsiedeln und Genf nach Le Puy en Velay nehmen oder lieber durch die Burgundische Pforte, am Rhein-Rhone-Kanal und am Doubs entlang, auf selbstgewählten Pfaden gehen. Zwei Gründe ließen uns die zweite Möglichkeit wählen: zum einen schreckte uns der Winter in der Schweiz; zum anderen wollte Horst-Alfred gern nach Cluny und ich nach Taizé. Also besorgten wir uns rechtzeitig alle Wanderkarten, die wir bis Le Puy en Velay brauchen würden. (Es gibt eine Markierung von Cluny nach Le Puy, die uns aber recht unzuverlässig erschien.) Zu Hause habe ich dann per Textmarker in die ausgebreiteten Karten einen Wandervorschlag eingemalt, an den wir uns teilweise gehalten haben, zum Teil haben wir ihn vor Ort aber auch abgeändert. Wichtig war mir eine gute Mischung aus schönem Weg und möglichst direkter Linie. Ich finde, daß das ganz gut gelungen ist.

Die französischen 25.000er Karten haben sich als sehr verläßlich erwiesen. Einzig im Bereich Mulhouse - Besançon ergaben sich Schwierigkeiten, weil nur 50.000er Karten zu bekommen waren, die offensichtlich einfach von 100.000ern hochkopiert und dementsprechend grob in der Wiedergabe sind. Aber mit einiger Wandererfahrung ließ sich dieses Problem kompensieren. Ab Le Puy gibt es gute Topo-Guides für den GR 65, der mit dem Jakobsweg identisch ist. (Der GR 65 ist seit 2002 auch ab Genf markiert.)

Für den spanischen Jakobsweg stehen ja inzwischen reichlich Wanderführer zur Verfügung, die man für das Laufen selber eigentlich alle nicht braucht, weil man sich viel Mühe geben müßte, um sich trotz der exzellenten Kennzeichnung zu verlaufen. Hilfreich sind statt dessen Führer, die auf Sehenswürdigkeiten hinweisen sowie jährlich aktualisierte Faltblätter über Unterkünfte, Restaurants und Läden unterwegs.

Unsere Unterkünfte haben wir nur ab und zu vorgebucht. Meist suchten wir uns einfach irgendwann ein Bett. Dabei gab es alles von der Absteige bis zum 5-Sterne-Hotel (ja, auch das!). Zweimal wurden wir von Menschen zu sich nach Hause eingeladen, als es keine andere Übernachtungsmöglichkeit gab. Diese Gastfreundschaft erlebten wir immer wieder: Kaffee und Kuchen, die uns unterwegs angeboten wurden, ein Obsthändler, der uns unbedingt ein Kilo Obst schenken wollte, Menschen, mit denen wir ohne weiteres in sehr persönliche Gespräche kamen. Die Muschel auf unseren Rucksäcken öffnete viele Türen. Im Freien mußten wir nie übernachten. Dabei hätte mich vor allem die fehlende Dusche geschreckt ...

Auf dem GR 65 in Frankreich waren viele Menschen unterwegs. Dort sahen wir uns gelegentlich gezwungen, Zimmer telefonisch am Vortag zu reservieren. Dabei half ein Buch, das wir uns zwar geweigert hatten zu kaufen, das wir dann aber unterwegs ein paar mal einsehen konnten und mußten: „Miam miam, Dodo“. Der Titel ist sprechend: in dem jährlich aktualisierten Bändchen werden alle Unterkünfte, Restaurants und Läden am GR 65 aufgeführt. Es stellt tatsächlich eine große Hilfe dar.

In Spanien haben wir immer „vor Ort“ geschaut, wo wir übernachten wollten. Wir hatten nie Schwierigkeiten, in Hostals oder Pensionen unterzukommen. Die Herbergen waren allerdings insbesondere ab Juli sehr voll, so daß wir sie gemieden haben, wo es irgend ging.

Viele Kilometer sind wir pro Tag nicht gelaufen. Unser durchschnittliches Pensum lag zunächst bei 20, später bei 25 km. Außerdem haben wir ungefähr alle 8-9 Tage einen Ruhetag eingelegt. Diese Auszeiten waren wertvoll, um genügend Zeit zum Schauen und Verdauen zu haben. Es stellt sich auch in dieser besonderen Situation eine Art Routine ein, die wir immer wieder durchbrachen, um nicht in einen Trott zu kommen, sondern offen zu bleiben für neue Erfahrungen.

Unterwegs lernten wir die unterschiedlichsten Menschen kennen: bis Le Puy waren es nur vier Pilger, die uns begegneten. Bis dorthin sprachen wir vor allem mit Menschen, die am Weg wohnten. Viele berührten uns und ließen sich berühren von diesem seltsamen Paar, das von Stuttgart nach Santiago unterwegs war. Ab Le Puy waren mehr und mehr Wanderer und Pilger unsere Gesprächspartner. Und in Spanien trat dann die spirituelle Dimension dieses etwa 1000 Jahre alten Weges ganz in den Mittelpunkt.

Die Menschen, die unterwegs sind, pilgern keineswegs alle aus christlichen Überzeugungen. Wir trafen Katholiken und Protestanten, Anglikaner und Methodisten, Agnostiker, Atheisten und Esoteriker, Buddhisten und solche, die sich als „gar nichts“ vorstellten. Aber allen gemeinsam war die Suche nach einer spirituellen Dimension in ihrem Leben, die Suche nach etwas Größerem. Über diese Aspekte menschlichen Seins zu sprechen, ist in unserer westlichen Gesellschaft ja recht ungewöhnlich. Selbst von besten Freunden wissen wir oft nicht, wie ihre persönlichen Ansichten in existentiellen Fragen sind. Auf dem Jakobsweg aber stehen diese Fragen im Mittelpunkt. Die Gespräche regen an, öffnen neue Perspektiven und helfen, eigene Standpunkte zu klären - und sei es in der Erkenntnis: „Da bin ich anders.“

Einige wandern auch aus sportlichen oder kulturellen Gründen auf dem Jakobsweg. Schließlich findet man hier auf eine sehr gute Infrastruktur. Auch diese Wanderer werden, wenn sie sich nicht wehren, vom Geist des Weges angesteckt und entdecken mehr, als sie eigentlich erwartet hatten.

Neben den geistigen Fragen kam für uns der Genuß nicht zu kurz. Asketische Enthaltsamkeit war nicht unser Ziel - auch wenn es in Ordnung war, gelegentlich ganz einfach zu leben. Wir haben aber in der Regel gut gegessen, getrunken und geschlafen. Auch so konnten wir die Schönheiten der Welt in uns aufnehmen.

Der ganze Weg war für mich eine Übung darin, im Hier & Jetzt zu bleiben - nicht im Gestern verharren oder ins Morgen oder gar Übermorgen vorpreschen, sondern sehen, was jetzt gerade ist. Das hieß z.B.: nicht ständig daran zu denken, wo wir heute abend übernachten werden, wie der Weg morgen verlaufen wird und wie es in Santiago sein wird. Für andere war das Gegenteil wichtig: sich nicht in aktuellen Details verlieren, noch dies, das und jenes „mitnehmen“, sondern das große Ziel im Auge zu behalten. So lehrt der Weg die unterschiedlichsten Dinge auf ganz einfache Weise.

Die Ankunft in Santiago de Compostela war überaus bewegend. Wir hatten unterwegs den guten Rat erhalten, kurz vor Santiago die letzte Übernachtung einzulegen und möglichst früh am Morgen anzukommen. Das beherzigten wir und trafen um 9 Uhr an der Kathedrale ein. Ein überwältigender Moment! Die innere Bewegung wird aufgefangen und geleitet durch klare Rituale. Sie helfen, in dem Moment, wenn man vor Gefühlsüberschwang gar nicht weiß wohin, geerdet zu bleiben.

Zuerst holten wir unsere Compostelana, die Urkunde, daß wir angekommen sind, im Pilgerbüro ab. Wir erhielten wertvolle Tips zu allem, was von Belang war. Danach ging es in die Kathedrale zur Jakobssäule. Die Stelle, an der Pilger seit Hunderten von Jahren ihre Hand legen, ist tief in den Stein eingemuldet. Danach kletterten wir hinter dem Hauptaltar zur Jakobsbüste, die umarmt wird. Vom Hauptschiff der Kirche sieht man immer wieder Arme, die sich um die Büste legen. Auch das eigentliche Jakobsgrab unter dem Altar besuchten wir natürlich.

Jeden Mittag um 12 Uhr ist Pilgermesse. Die Kathedrale ist dann bis auf den letzten Platz besetzt, manche müssen stehen. Dort trafen wir viele wieder, die wir auf unserem Weg kennen gelernt hatten. Manche wähnten wir weit voraus oder zurück und waren so überrascht wie sie, sie nach Tagen, teilweise nach Wochen wieder zu sehen. Ich habe nie so viele Tränen in einer Kirche fließen sehen wie dort: vor Freude, Erleichterung, innerer Bewegung.

Die Erfahrungen dieser vier Monate begleiten mich in meinem Alltag und haben mir sehr neue Perspektiven auf das Leben gegeben. Dafür bin ich dankbar.

Wenn jemand Informationen irgendwelcher Art haben möchte, bin ich gern ansprechbar.

Sylvia Broeckmann
Kornbergstr. 39 70176 Stuttgart Tel. 0711-226844

auf-jakobs-pfaden
183
Berichte

Wege und Ziele

nr65nov23Ausgabe 65, November 2023
nr64apr23Ausgabe 64, April 2023
nr63nov22Ausgabe 63, November 2022
nr62april22Ausgabe 62, April 2022
nr61nov21Ausgabe 61, November 2021
nr60apr21Ausgabe 60, April 2021
nr59dez20Ausgabe 59, Dezember 2020
nr58dez19sonderSonderbeilage, Dezember 2019
nr58dez19Ausgabe 58, Dezember 2019
nr57mai19Ausgabe 57, Mai 2019
nr56nov18Ausgabe 56, November 2018
nr55mai18Ausgabe 55, Mai 2018
nr54dez17Ausgabe 54, Dezember 2017
nr53aug17Ausgabe 53, August 2017
nr52apr17Ausgabe 52, April 2017
nr51dez16Ausgabe 51, Dezember 2016
nr50aug16Ausgabe 50, August 2016
nr49apr16Ausgabe 49, April 2016
nr48dez15Ausgabe 48, Dezember 2015
nr47aug15Ausgabe 47, August 2015
nr46apr15Ausgabe 46, April 2015
nr45dez14Ausgabe 45, Dezember 2014
nr44aug14Ausgabe 44, August 2014
nr43apr14Ausgabe 43, April 2014
nr42dez13Ausgabe 42, Dezember 2013
nr41aug13Ausgabe 41, August 2013
nr40apr13Ausgabe 40, April 2013
nr39dez12Ausgabe 39, Dezember 2012
nr38aug12Ausgabe 38, August 2012
nr37apr12Ausgabe 37, April 2012
nr36dez11Ausgabe 36, Dezember 2011
nr35aug11Ausgabe 35, August 2011
nr34apr11Ausgabe 34, April 2011
nr33dez10Ausgabe 33, Dezember 2010
nr32aug10Ausgabe 32, August 2010
nr31apr10Ausgabe 31, April 2010
nr30dez09Ausgabe 30, Dezember 2009
nr29aug09Ausgabe 29, August 2009
nr28apr09Ausgabe 28, April 2009
nr27dez08Ausgabe 27, Dezember 2008
nr26aug08Ausgabe 26, August 2008
nr25apr08Ausgabe 25, April 2008
nr24dez07Ausgabe 24, Dezember 2007
nr23aug07Ausgabe 23, August 2007
nr22apr07Ausgabe 22, April 2007
nr21dez06Ausgabe 21, Dezember 2006
nr20aug06Ausgabe 20, August 2006
nr19apr06Ausgabe 19, April 2006
nr18dez05Ausgabe 18, Dezember 2005
nr17aug05Ausgabe 17, August 2005
nr16apr05Ausgabe 16, April 2005
nr15dez04Ausgabe 15, Dezember 2004
nr14aug04Ausgabe 14, August 2004
nr13apr04Ausgabe 13, April 2004
nr12dez03Ausgabe 12, Dezember 2003
nr11aug03Ausgabe 11, August 2003
nr10apr03Ausgabe 10, April 2003
nr09dez02Ausgabe 09, Dezember 2002
nr08okt02Ausgabe 08, Oktober 2002
Zur Bereitsstellung unserer Dienste verwenden wir Cookies. Wenn Sie nicht damit einverstanden sind, dass Cookies auf Ihrem Rechner gespeichert werden, können Sie dies ablehnen. Möglicherweise werden dann unsere Dienste nicht im vollem Umfang funktionstüchtig sein.