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Zuletzt aktualisiert am: 23.02.16
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W a n d e r b e r i c h t e - B e l g i e n
Inhaltsverzeichnis: • Zu Fuß von der Nordsee in die Eifel
Teil
1: Über den GR 5A Noord von De Panne nach Antwerpen Von Werner Hohn
• Zu Fuß von der Nordsee in die Eifel
Teil
2: Von Antwerpen zum Rurstausee Von Werner Hohn
Zu Fuß von der Nordsee in die Eifel
Teil 1: Über den GR 5A Noord von
De Panne nach Antwerpen
Von Werner
Hohn
Wir wollten schon immer mal zu Fuß von zu Hause bis an die Nordsee wandern. Wir
würden die Rucksäcke schultern, die Haustür würde mit einem „Plopp“ hinter uns
ins Schloss fallen, mein letzter Blick würde zweifelnd dem Rasen gelten - ob die
Nachbarn das überleben, wenn der drei Wochen nicht gemäht wird? - und dann wären
wir weg.
Eine kurze, dafür sehr steile Anhöhe müssten wir hinauf, danach hinunter an
den Rhein, weiter ins Ahrtal und dann quer über die Eifel bis nach Aachen. Von
der Printenstadt entweder nach Holland oder nach Belgien. So wichtig wäre das
nicht, Hauptsache, nicht alles durch Deutschland.
Zugegeben, das mit dem »Wir« stimmt so nicht ganz, denn meine Frau hatte
überhaupt keine Schwierigkeiten, sich eine Autofahrt vorzustellen, die
gegebenenfalls an einem sommerlichen Nordseestrand enden könnte. Zugeben muss
ich auch, dass es einer an Hirnwäsche grenzenden Überzeugungsarbeit meinerseits
bedurfte, bis meine Frau die Idee ebenfalls toll fand. Gut, dass ich dafür auf
einem anderen Gebiet würde bluten müssen, war sonnenklar, aber man(n) schiebt
diese Art der Wiedergutmachung schließlich gewohnheitsmäßig ganz nach hinten.
Im
Frühjahr 2009 war es dann soweit, Wanderkarten mussten her, denn im kommenden
Hochsommer wollten wir uns auf den Weg machen. Die Karten von der Haustür bis
zum Thron Karls des Großen liegen schon immer bei uns im Regal. Fehlte noch das
kleine Stück durch Belgien bis an die Küste irgendwo nahe bei Holland. Belgien
sollte es auf alle Fälle werden. Schnell hin, bevor es verschwunden ist, so in
etwa. In Deutschland belgische Wanderkarten zu bekommen ist überhaupt kein
Problem, solange man ins Hohe Venn oder in die Ardennen möchte. Das ist
grenznah. Für deutsche Kartenhändler
sozusagen der Beifang zu den Eifelkarten.
Und weil das Bestellformular auf der wirklich informativen Seite der De Vlaamse
‘Grote Routepaden’, da gibt es wirklich alles fürs Wandern in Belgien, sich
jedes Mal beim Lesen der deutschen Postleitzahl aufgehängt hatte (macht die
Seite heute immer noch, glaube ich), alle einschlägig aus dem Internet bekannten
Kartenhändler ebenfalls gepasst hatten, mussten wir nach Köln.
Seit dem Frühjahr ‘97 ist ein kleiner, wohl sortierter und auf Karten aller Art
spezialisierter Laden meine Lieblingsadresse in Köln. Der Laden liegt schön weit
weg von der Innenstadt, und dann haben die Leute auch noch Ahnung von der Sache
und die haben alles, wenn nicht, wird’s besorgt. So war das immer - bis zum
Frühjahr 2009.
Belgien – Achtung!, das ist jetzt der Teil für Heimatkundeschwänzer - liegt
mitten in Europa, von dort wird über das Wohl und Wehe von drei Viertel des
Kontinents bestimmt, dort spricht man mehrere Sprachen und die östlichen
Landesteile liegen so nahe bei Köln, dass nicht wenige Ostbelgier für den
Wochenendeinkauf in die Stadt am Rhein fahren. Oder von der anderen Seite aus
betrachtet, ist Belgien nichts anderes als die Verlängerung des Kölner
Grüngürtels nach Westen.
Wanderkarten für
Belgien, das sei überhaupt kein Problem, hatte die freundliche Verkäuferin uns
beschieden und dabei aufs Regal gezeigt. Sicher, die hatte ich schon
durchgesehen. Die Ardennen, das Hohe Venn. Wie schon erwähnt, das hat jeder
anständige Kartenhändler vorrätig. Unser Sinn stand nach Wanderkarten für den GR
5, einen der ganz großen Wege durch Europa. Der fängt als Deltapad in Holland
an, mutiert beim Grenzübertritt ins Nachbarland zum GR 5 und behält diese Nummer
durch Luxemburg und Frankreich, bis hinunter nach Nizza. Der
GR 5 ist einer der ganz großen Europäischen
Fernwanderwege, der E2 eben. Das könnte schwierig werden, meinte die freundliche
Dame,
sei jedoch sicherlich machbar. Listen wurden gewälzt, ein Ordner rausgekramt, eine ebenso freundliche
Kollegin um unterstützenden Rat gefragt. Ja, man müsse beim Lieferanten
nachfragen. Es könne aber dauern, 8 Wochen mindestens, sogar noch länger.
Eigentlich wollten wir dann schon unterwegs sein. Mir war das entschieden zu
lang und zu ungewiss. Gut, versuchen wir’s bei Globetrotter, die haben auch ‘ne
brauchbare Karten- und Buchabteilung.
Das könnte eventuell schwierig werden, meinte der freundliche junge Mann, der in
Globetrotters Karten- und Buchabteilung sein Geld verdient. Wenn er ehrlich sein
soll, sei sein Wissen um belgische Wanderkarten eher bescheiden, aber wenn ich
Titel und ISBN hätte, würde sich jemand mit Ahnung um meine Wünsche kümmern. Der
mit der Ahnung war an dem Tag leider nicht da. Wofür gibt es denn eMail? Er
würde sich melden, der mit der Ahnung von Belgien.
Beim Regalstöbern ist mir tatsächlich ein belgischer Topogids in die Hände
gefallen: „GR 5A Wandelronde van Vlaanderen Deel Noord“. 250 Kilometer von De
Panne bis nach Antwerpen, davon die ersten 65 direkt an der Nordseeküste
entlang. Für den Hochsommer genau die passende Strecke für Idioten, hatte ich
gedacht und das dünne Buch ins Regal zurückgestellt.
Am nächsten Tag war die eMail aus Köln da. Tenor: Das gewünschte Buch sollte in
spätestens 2 Wochen da sein. Das hatte gestimmt, denn um diese Zeit war die
nächste eMail da. Abholen oder per Post? Abholen, denn wir hatten noch so’ne
Idee. Wollen wir uns tatsächlich im Hochsommer durchs glühend heiße Ahrtal
quälen, unsere Rucksäcke über die bewaldeten Hügel der Nordeifel schleppen; uns
Landschaften, die vom mittäglichen Sommerdunst erschlagen würden anschauen und
die wir zudem alle schon kennen? Diese Fragen hatten wir mit einem klaren „Nein“
beantwortet. Neue Idee: Wir fangen an der Nordsee an, genauer in Hoek van Holland,
und folgen dem E2 nach Süden, vielleicht bis Luxemburg. Dafür mussten mal wieder
neue Karten, beziehungsweise Topogids her. Kein Problem, hatte ich mir gedacht,
wenn die in Köln das Buch aus Belgien so schnell besorgen können, sollte die
neue Bestellung locker, flockig über die Bühne gehen.
Der mit der Ahnung von Belgien war an dem Tag da, unser bestelltes Buch auch.
Oh, das könnte Probleme aufwerfen, hatte der mit der Ahnung von Belgien gesagt,
als er sich unsere neuen Buchwünsche angehört hatte. Neben dem Lieferanten für
den belgischen Topogids, sei nun zusätzlich einer für‘s holländische Buch mit im
Spiel. Um der Sache vorzugreifen: Der Mann mit der Ahnung von Belgien, sollte
recht behalten mit seinen Ahnungen, denn die Bücher waren nicht lieferbar. Und
als ob ich es geahnt hätte, hatte ich das oben genannte Buch für die
Idiotensommertour auf dem GR 5A dann doch aus dem
Regal genommen, als Rückversicherung sozusagen. Wenn nichts geht, geht die
„Wandelronde van Vlaanderen“.
Am großen Kartentisch ist mir ein Wanderer über den Weg gelaufen. Der war
ebenfalls auf der Suche nach Karten, hatte es dabei jedoch bedeutend einfacher
als wir. Bücken, Schublade aufziehen, kurze Sucherei. Stirnrunzeln ob’s passt.
Passt! Eine Sache von wenigen Minuten, er wollte schließlich nur nach Norwegen,
nicht in so ein Exotenland wie wir.
Unsere Planung für eine Ersatzroute, sollten die Bücher nicht kommen, sah nun so
aus: Mit dem Zug nach De Panne und über den GR 5A nach Antwerpen. Von dort auf
einer selbst gestrickten Strecke bis zum GR 5/E2, dem wir bis Maastricht folgen
wollten. Weiter durch den südlichsten Zipfel Hollands bis nach Aachen, wiederum
auf einer DIY-Route, und den letzten Rest quer durch die nördliche Eifel bis an
den Rhein, das vorzugsweise auf den Hauptwanderwegen des Eifelvereins. Wie oben
schon erwähnt: die Bücher sind nicht gekommen.
Ob wir tatsächlich
ab Maastricht Richtung Heimat
oder vielleicht doch nach Luxemburg wandern würden,
war so sicher auch nicht. Spätestens in Antwerpen würden wir uns endgültig
festlegen. Angereist sind wir Anfang August 2009
für‘n Appel und 'en Ei mit dem Zug.
Erstaunlicherweise war das trotz einer saftigen Verspätung, die sich der ICE in
Belgien geholt hatte, eine ziemlich flotte Anreise. Im Morgengrauen weg, am
frühen Nachmittag da.
Im Internet hatte ich uns einen Campingplatz dicht beim Bahnhof rausgesucht.
Nein, der Platz ist voll, meinte die Frau, die nach mehrmaligem Läuten doch noch
den Weg zur Haustür gefunden hatte. Tür zu, wir beide waren eben am Beginn der
Kehrtwendung, Tür auf. Ah, Wanderer! Sicher, für die findet sich immer ein
Plätzchen. Macht 25 Euro. Wenige Schritte später wussten wir, dass der Platz mal
eben zu einem Drittel voll war. Woher die Gnade? Wanderfreundlich oder weil sie
uns den Campingplatz neben dem lauten Vergnügungspark nicht zumuten wollte? Wir
werden es nie
erfahren.
De Panne besteht
aus einem kleinen Bahnhof, einer großen Haltestelle für die Küstenstraßenbahn
und ein paar Klinkerhäusern - das dachten wir nur solange, bis wir die
2 Kilometer, die den idyllischen und ruhig gelegen
Bahnhof und den noch viel ruhiger gelegenen Campingplatz vom Strand trennen,
runtergespult hatten. De Panne ist das genaue Gegenteil von Idylle, von Ruhe,
von Beschaulichkeit, von ursprünglicher Architektur. Ich bezweifle sogar, dass
De Panne überhaupt Belgien ist. De Panne besteht aus einem langen,
breiten, sauberen, überwachten,
quitschlebendigen Strand. Aus 15-stöckigen, fantasielosen Hochhäusern direkt an
der Strandpromenade. Wenn man die Promenade entlang schaut, wollen beide nicht
enden. Die Promenade nicht, die Hochhäuser nicht. Und Menschen waren an diesem
Nachmittag dort unterwegs. Menschen, Menschen, Menschen.
Und hier sollen wir morgen früh mit Rucksäcken auf dem Rücken und Wanderschuhen
an den Füßen unsere Wanderung nach Hause beginnen, zweifelten wir. Der Gedanke,
der mir spontan vor dem Bücherregal in Köln in den Sinn gekommen war, war nicht
so verkehrt: zur Sommerferienzeit die passende Wanderstrecke für Idioten.
Allerdings, mit solchen Strecken sind wir oft gut gefahren.
Kontrastprogramm I
1. Etappe: Von De Panne nach Westende
Einen größeren Kontrast hätte es nicht geben können. Vorne: Jubel, Trubel,
Menschenauflauf, Frittenbuden, Kartverleih; hier: Stille, Ruhe, Einsamkeit,
Bäume und Büsche, hie und da hartes Dünengras. Sandwege, mal so breit wie der
Plattenweg der Promenade vorne am Strand, dann so schmal, dass wir kaum zwischen
den mehr als mannshoch wuchernden Büschen hindurch passten. Oft im Grün
untergehend, viel zu selten schon von weitem zu sehen, waren die
Markierungspfähle für unseren Wanderweg, aber sie waren da. Nur in den Dünen war
die weiß-rote Markierung des GR 5A Noord nicht immer erkennbar, oft fehlte
sie ganz. Lokale Wanderwege, ausgetretene Schleichpfade gaben dann den Weg bis
zum nächsten weiß-roten Farbklecks vor. Das alles nur einige Schritte hinter den
nicht enden wollenden Siedlungen, die die Nähe des Küstensaums suchen.
Für Stunden war der brodelnde, vom prallen Urlauberleben überquellende
Nordseestrand sehr weit weg. Nur kurz, für Minuten, mussten wir rein ins
Ferienleben und das nur in der Schonvariante. Abseits gelegene Feriensiedlungen,
vereinzelte Häuser, ein Jugendzeltplatz, zwei oder drei große Zufahrtstraßen
mussten wir queren. Dann war wieder Ruhe. Zwischenspiele, Ablenkung,
Verwunderung gab es auf den Straßen durch die Feriensiedlungen, die von
sommerlicher Unaufgeregtheit erschlagen schienen. In den Einfahrten und Garagen
der frei stehenden Ferienhäuser versteckten sich die Mercedes‘, Volvos, Passats,
die blitzenden, noch eben bezahlbaren Lieblingsfahrzeuge der keine Experimente
eingehende Urlauberklientel. Hinter Hecken lugten farbenfrohe Sonnenschirme
hervor, blinkte Poolblau durchs
nicht immer blickdichte Grün, schallte viel zu selten Kinderlärm.
Dort, wo der Urlaub preiswerter wird, in den Straßen zwischen den niedrigen
mehrstöckigen Apartmenthäusern, füllten die Renaults, Fiats, die kleinen,
wendigen Japaner und die noch kleineren Südkoreaner, dazu viele ältere, vormals
hoch preisige Fahrzeuge die Straßenränder. War ein Supermarkt in der Nähe,
wurden die Lücken zwischen den Autos seltener.
Auf den Straßen waren nur wenige Menschen zu sehen. Ein Rudel Kinder mit
Fahrrädern auf deren Gepäckträgern Handtuchrollen und bunte Taschen das nahe
Ziel erahnen ließen: offensichtlich auf dem Weg zum Strand. Zu Fuß gingen nur
wenige. Meist nur die ohnehin gehen müssen. Menschen ohne Führerschein und
Hundehalter.
Die ersten Stunden auf dem GR 5A Noord führen sicherlich durch den
landschaftlich schönsten Teil des Küstenabschnitts, das hatte sich schon beim
Überfliegen der Kartenausschnitte abgezeichnet. Auf der meernahen Seite geht es
immer knapp hinter den letzten Häusern der Feriendörfer vorbei - soweit machbar
-, auf der landnahen Seite nie raus in die flache Polderlandschaft. Auf einem im
Mittel nicht mehr als 2,5 Kilometer breiten Streifen längs der flachen Küste
drängen sich Belgiens Nordseeferienzentren und ein langes natur belassenes
Dünengebiet. Pflichtschuldig zählt jeder Reiseführer die Dünen auf, bieten die
örtlichen Touristeninfos Faltblätter mit Wandervorschlägen an. Vergebens,
jedenfalls zur Hauptbadezeit im
Sommer.
Den Anfang macht das Naturreservat De Westheok, fast noch in Frankreich, enden
wird die Aufzählung mit dem Dünengebiet Ter IJde, dessen Sand bei Weststurm bis
in die Ausläufer von Nieuwpoort-Bad geweht wird. Aber wer sucht gezielt in
Reiseführern nach naturbelassenen Gebieten, nach Wanderwegen durch die Dünen,
wenn einem der Sinn nach Badeurlaub und Vergnügen steht? Am schönsten war das
Dünengebiet von Ter IJde. Richtige Dünen. Hoch hinauf, dort wo der sommerliche
Wind wehen konnte, dann wieder über einen verwitterten Zaun hinab in eine
windstille Senke, aus der die sommerliche Hitze keinen Ausweg fand. Vermutlich
haben
uns die Dünen von Ter IJde so gut gefallen, weil wir
danach auf absehbare Zeit ins Touristengetümmel
wechseln würden.
Stunden vorher
hatten wir die höchste Düne der belgischen Küste erklimmen müssen. Unsere
Schritte sind dort kürzer geworden, die Füße suchten Halt im lockern Sand,
fanden keinen, rutschen ein Stück zurück, um erneut anzusetzen. Schnaufen,
fluchen, verzweifelte Blicke nach oben. Bergsteigen an der belgischen Küste
stand
nicht auf dem Programm. Unten am Zaun hatte ein
verwittertes Schild gestanden, “Hoge Blekker 33 m”. Als wir oben waren, habe ich
im Wanderbuch nachgeschaut, ob’s das war. Ja, bis Antwerpen, steht dort, ist das
der höchste Punkt über den der GR 5A Noord geführt wird.
Und für uns noch mindestens 100 Kilometer weiter, hatte ich in Gedanken
hinzugefügt. Höher hinaus mussten wir erst zwei Wochen später wieder.
Die Hektik, der Menschenauflauf, der Lärm der Uferpromenaden waren in den
Nachmittagsstunden wieder da. In Groenendijk-Bad hatten uns die bunten
Werbefahnen, die Hochhäuser, die Infrastruktur zum Wohl der Sommerurlauber
wieder eingefangen. Das sollte uns bis Nieuwpoort-Bad nicht wieder los lassen.
Dort haben wir kurz den GR 5A verlassen, der mangels Brücke über die Ijzer ins
nahe Nieuwpoort führt. Wir hatten das Glück auf ein paar alte Männer zu treffen,
die an diesen Sonntag nicht besseres zu tun hatten, als mit einem alten
Eisenkahn die Menschen über die Mündung der Ijzer überzusetzen. Einer der beiden
Männer hielt mit dem kleinen Außenbordmotor den Bug des Nachen fest an den
Anleger gepresst, der andere bändigte mit einer kurzen Leine das mit der
Strömung reißaus nehmend wollende Bötchen, bis der letzte wankelmütige Passagier
die beiden in grellem „Das-Leben-ist-Gefährlich-Rot“ warnenden
Rettungsringe passiert und Platz genommen hatte. Abstoßen, eine Lücke zwischen
die mit der auflaufenden Flut heimkehrenden Freizeitskipper suchen, den Gasgriff
bis an den Anschlag drehen - und schon waren wir drüben. Das alles für eine
Spende, die, wie ich leider beobachten konnte, bei vielen Fahrgästen unterblieb.
Kontrastprogramm II
2. Etappe: Von Westende bis Oostende
Von einem der vielen Campingplätze rund um Westende ist es nicht mehr weit bis
Oostende. Wer es drauf anlegt schafft das in drei Stunden. Das sind so um die,
na ja, großzügig geschätzt, 15 Kilometer. Alles flach. Höhenmeter rauf null,
Höhenmeter runter null. Nach einer gemütlich vertrödelten Stunde über den
frühmorgendlich noch leeren Strand waren wir bei Miami-Wijk (es gibt Namen, die
ziehen sich durch alle Strandsiedlungen dieser Welt) wieder auf den GR 5
gestoßen. Von Nieuwpoort kommend führt der zunächst etwas landeinwärts durch die
Polder. Wegen der Fahrt mit dem Nachen gestern, hatten wir die Poldertour
verpasst,
was bei Licht betrachtet kein Beinbruch sein sollte, jedoch für ein klein wenig
Abwechslung gesorgt hätte.
Wie oben
geschrieben, man kann die 15 Kilometer flott runterspulen. Dass man das auch
langsamer angehen kann wird jedem klar, der einen Blick in die Wanderkarte
wirft, denn 11 von den 15 Kilometern sind schnurgerade, führen von einer
Feriensiedlung, was hier ruhig als Bausünde verstanden werden darf, zur
nächsten. Links die Nordsee, dann der Strand, dann die Promenade, oder auch
Bürgersteig. Rechts dann die Reihen fantasieloser viel stöckiger
Apartmenthäuser, die mehr als oft, also eigentlich immer, nach südlichen und
wärmeren Urlaubszielen benannt sind. “Costa Dorada”, Mariakerke, Belgien,
Nordseeküste,
8. Etage links nach vorne raus. Ist das eine
Urlaubsadresse?
Gibt es Gründe fürs langsame Angehen dieser Strecke? Sicherlich. Man muss nicht
verhungern, denn vielsprachige Speisekarten locken. Man muss nicht verdursten,
denn man kann alle paar Meter zwischen belgischem Bier und italienischem Kaffee
wählen. Man kann seine Ausrüstung den lokalen Gepflogenheiten anpassen. Die
Badehose, das bunte T-Shirt, die Schwimmärmchen, Sonnencreme, Strandmuscheln,
Badelatschen, Postkarten, der Silberschmuck, Tand, Kitsch, die Fähnchen und
unendlich viel mehr, alles vergessen beim Rucksackpacken? Hier wäre das kein
Problem gewesen.
Über Middelkerke Bad, Raversijde und Mariakerke hatten wir die Strecke
vertrödelt, und wenn wir noch die Provinciaal Domein Prins Karel besichtigt
hätten, wären wir noch später in Oostende angekommen. Dafür sollte man aber
schon Belgier sein, vielleicht nicht nur auf dem
Papier, sondern auch vom Gemüt, denn so interessant ist die Domain nicht.
Das Hotel mitten in Oostende war nicht so toll. Eng und mit einem Fenster zum
Lichthof, in dem heiße von jeglichem Luftaustausch abgeschnittene Luft stand.
Beim Blick nach unten waren Lüftungshauben zu sehen, die ich eindeutig der Küche
zuordnen konnte. Später am Abend sollte aus meiner Vermutung Gewissheit werden,
ebenfalls, dass Belgier nicht immer frisches Öl für die Fritten nehmen; und die
Hoffnung auf leise Lüftermotoren, die ich bei der Ankunft noch hatte, wurde
abends von stetem Brummen hinweggefegt.
Einer der Motoren hatte in nervenden Abständen gewimmert. Kurz, leise, Pause,
neu. Das in einer Tonlage die Kapitalverbrechen erklärbar machen. Uns blieb nur
die Wahl zwischen nächtlichem Hitzetod bei geschlossenem Fenster oder eine
Ahnung von Windhauch kombiniert mit einem Stresstest. Das hat man davon, wenn
man den nach Geschlechtern getrennten Schlafräumen der örtlichen Jugendherberge
eine Abfuhr erteilt.
Abseits der austauschbaren Fußgängerzone, es kann nicht mehr lange dauern, bis
Europas Einkaufsmeilen von wenigen Marken okkupiert sind, ist Oostende behäbig.
Demis Roussos, die Soulsisters und Engelbert Humperdinck würden in der nächsten
Zeit im Kursaal auftreten. Ich war erstaunt, dass die alle noch leben.
Neben der Fußgängerzone, spielte sich das Leben an diesem Montag auf der
Strandpromenade ab. Café neben Café, Confiserien neben Confiserien, Crêperien
neben Crêperien, und wenn es dann zu bunt wurde, mal wieder die unvermeidlichen
Frituur oder ein Freizeitspaßladen. Die angenehme Bummel-Trägheit des Vormittags
war hier passé, bis ein Regenschauer die Menschen in die Häuser vertrieb. Davon
konnte sich die Strandpromenade an diesem Tag nicht mehr erholen. Grau passt
nicht zum Sommerurlaub.
Eine Strandwanderung
3. Etappe: Von Oostende nach De Haan
Hurra, grauer Himmel. Mit dem Wetterzwischenspiel des vergangenen Nachmittags
fing dieser Dienstagmorgen an. Grauer Himmel bis runter auf die graugrüne
Nordsee und das Thermometer wollte auch nicht so richtig in die Höhe. Das, was
das Nordseewetter eben im Sommer so alles bietet. Wir waren nicht böse drum,
denn wir wollten eine Strandwanderung machen. Wenn schon ein Teil der Strecke
über den Strand führt, hatten wir überlegt, müssen wir nicht unbedingt die
kurzen Schlenker des GR 5A durch die Dünen mitmachen. Wenn man schon an der
Nordseeküste wandern geht, gehört eine ordentliche Strandwanderung dazu, egal
was die Wegmacher davon halten.
Im Sommer, wenn die Sonne von einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel über die
Küste einfällt und die Menschen schon morgens in Scharen an den Strand eilen,
sind für uns Strandwanderungen mit großen Rucksäcken so reizvoll, wie die Kölner
Fußgängerzonen am letzten Adventwochenende. Unter diesem Gesichtspunkt kam uns
der graue Himmel an diesem Morgen sehr entgegen.
Vor dem Strand haben die belgischen Wegmacher einen Stadtrundgang durch halb
Oostende ausgeschildert. Entgegen meiner Erwartung gab es keine Fähre, und wäre
sie noch so klein gewesen, die uns den wenig reizvollen Weg durch den Hafen
erspart hätte.
Davon, dass Oostende eine Stadt mit Industriehafen ist, hatten wir gestern noch
nicht viel mitbekommen. Der eigentliche Hafen ist am jenseitigen Ufer, an dessen
von Kais gesäumten Ufer wir nun entlang mussten. Die großen Pötte finden eh
selten den Weg nach Oostende und für die richtig großen ist der Hafen viel zu
klein. Nur als das große Ausflugschiff gestern am späten Nachmittag am Kai
mitten in der Stadt angelegt hatte, um seine Passagiere auszuspucken und noch
schnell, bevor der Tag endet, eine neue Rundfahrtgruppe für die letzte Fahrt des
Tages über die Gangways auf die
Decks eilten, war ein Hauch von Hafengefühl aufgekommen.
Hafengefühl, genau weiß ich auch nicht, was das ist, jedenfalls hat es etwas mit
Sehnsucht und Abhauen zu tun. Für mich ist der Oostender Hafen dafür viel zu
klein, und die wenigen Schiffe, die an dem Morgen an den Kais der sonst leeren
Hafenbecken festgemacht hatten, waren meist nicht in der weiten Welt zu Hause,
die erst weit hinter den Grenzen Europas beginnt. Kanal- und Küstenfahrer, teils
Flussschiffe mit Ladung ins Binnenland.
Den Geruch von weiter Welt verströmte nur ein kleiner Segler aus Kanada, der am
Stadtkai lag. Das war die „Nuthin-Wong“ aus Victoria, B.C. Nicht viel mehr als
12 Meter lang, etwas vergammelt, etwas verbeult, die Farben matt und von Salz
und Sonne malträtiert. Zwei nackte, schlichte Holzmasten für die Segel und jede
Menge alte Autoreifen als Fender. Über die Reling am Heck ragte die große
Holzplatte einer mechanischen Windfahnenselbststeueranlage in den belgischen
Himmel. Und wenn ich mich nicht komplett geirrt hatte, war das Boot als Dschunke
geriggt. Größer hätte der Kontrast
zu den
Segelyachten im nahen Stadthafen nicht sein können. Leider war niemand an Bord -
leider, leider.
Wie erwartet war der Strand leer. Die unvermeidlichen Strandspaziergänger in
aufgeblähten Windjacken, ein Mann beim Hüttenbau aus angeschwemmten Ästen und,
genau wie wir die Chance nutzend, die Hundebesitzer mit ihren Tieren, die so gut
wie überall wo Badebetrieb ist, verboten sind.
Mittags waren wir in De Haan. De Haans Strandpromenadenbebauung ist nicht ganz
so hoch, nicht ganz so hässlich, und nicht ganz so lang wie jene, die wir in den
letzten beiden Tagen hinter uns gelassen hatten. Schön ist die jedoch auch
nicht. Richtige Dächer machen den Bock auch nicht fett. Ab der zweiten Reihe ist
das kleine Seebad schön. Schon beim Weg zum Campingplatz war uns das
aufgefallen. Ab der zweiten Reihe wird es in vielen anderen Seebädern wenn nicht
schmuddelig, so doch weniger gepflegt. Vorne hui, hinten geht so. De Haan ist
hinten auch hui.
Hinter der mehrstöckigen Appartementhausreihe am Strand hat das Städtchen
Charme. Verschachtelte einstöckige Häuser mit richtigen Dächern, Erkern,
zugewucherten Terrassen, mit Wintergärten in deren Verglasung sich das Grün
gepflegter Gartenanlagen spiegelte. Weiträumig, oft unter altem Baumbestand,
verteilen sich die Häuser bis hinunter zum Bahnhof für die Küstenstraßenbahn. De
Haan war angenehm träge. So wie ein sonniger Nachmittag auf der heimischen
Terrasse, wenn alle Nachbarn ausgeflogen sind.
Mittags hatten sich die grauen Wolken verzogen, und in null-Komma-nichts ging es
auf der Promenade zu wie beim Schlussverkauf. Sehr viele alte und dem Anschein
nach situierte Menschen saßen auf den Bänken, bevölkerten die Crêperien oder
flanierten mal kurz über die Betonplatten der Promenade. Dazwischen Kinder ohne
Ende. So viele Kinder wie an der belgischen Küste zur Hauptferienzeit hatten wir
schon lange nicht mehr gesehen.
Für die 60 Kilometer entlang der wirklich fast komplett zugebauten Küste hatten
wir drei Tage benötigt, denn am nächsten Tag würden wir ins Binnenland abbiegen.
Wie man es dreht und wendet, unter sportlichen Gesichtspunkten war das keine
Glanzleistung. Das sollte es auch nicht werden. Eine Trekkingtour war das auch
nicht, ebenfalls keine Wanderung obwohl wir die ganze Strecke zu Fuß gegangen
sind. Das war Urlaub auf eine andere Art. Eine Genusswanderung in Verbindung mit
Sozialstudien am urlaubenden Belgier und Holländer. Der Gedanke an einen Abbruch
oder Überspringen ist uns nie gekommen. Das letzte stimmt nicht ganz. Diese
Küstenstraßenbahn, deren
Haltestellen uns oft alle halbe Fußwegstunde im Weg standen, kann man ohne
Untertreibung mit Evas Apfel gleichsetzen. Wir sind der Verlockung nicht
erlegen!
Weltkultur
4. Etappe: Von De Haan nach Brügge
Hinaus aufs Land, was wenn man von der Küste kommt, nur hinein ins Land bedeuten
kann. An diesem frühen Mittwochmorgen würden wir endgültig die Nordseeküste und
damit die Urlauberströme hinter uns lassen. So hatten wir uns das vorgestellt.
Endlich freie Bahn und endlich freie Sicht übers flache Land. Keine
Hochhauskulissen mehr, dafür Wiesen, Felder und verschlafene Bauerndörfer. Schon
im Morgengrauen waren wir unterwegs. Noch eine Stunde durch das Wäldchen hinterm
Strand, dann im rechten Winkel abbiegen. Das war’s. Adieu Küste! Im
frühmorgendlichen Zwielicht waren wir auf die ersten Wanderer
seit Beginn unserer Tour getroffen. Zwei Männer mit großen Rucksäcken, schweren
Wanderschuhen, ich meinte sogar Bergstiefel erkannt zu haben, zogen ohne
Reaktion auf unseren Gruß im Marschschritt in Richtung Küste an uns vorbei. So
was hatten wir in all den Jahren, die wir nun schon zu Fuß unterwegs sind, noch
nie erlebt. Dort wo sich die Wanderer ballen ja, auf einsamen Wegen wie diesem
hier jedoch nicht.
Landschaftswechsel, Szenenwechsel kann ganz schön spannend sein. Fragt sich nur
wie lange, denn Maisfeld bleibt Maisfeld und Ackerstraße bleibt Ackerstraße. Die
Küste hatte uns in der Hinsicht ganz schön verwöhnt. Nicht immer war diese
schön, aber Neues gab es alle paar Meter zu sehen – und wenn es nur die neueste
Bademode war. Wandern durchs platte Land kann ganz schön langweilig sein, wenn
einem die Maispflanzen über den Kopf wachsen. Der morgendliche Höhepunkt war
zweifellos das Café im winzigen Weiler Meetkerke. Ein Pott Kaffee, noch einer
und die Welt war wieder in Ordnung. In Meetkerke fiel dann
endgültig der Entschluss auf direktem Weg nach Brügge zu gehen.
Die belgischen Wegemacher meinen es sicherlich gut mit den Wanderern. Sie führen
den GR 5A Noord in einer weiten kilometerfressenden Schleife westlich um die
Stadt herum. Durch höchstwahrscheinlich schöne parkähnliche Landschaften, mit
sicherlich noch schöneren Herrenhäusern, wird der Weg dann doch ins Stadtzentrum
geführt. Dann aber genau von Süden her. Wenn man wie wir von der Küste kommt,
die nicht ohne Grund Nordseeküste heißt, kann man über diese Wegführung schon
etwas ans Grübeln kommen.
Wir brauchen das
wirklich nicht, waren wir uns beim Blick ins Wanderbuch sicher.
Die Brügger Altstadt ist UNESCO-Weltkulturerbe, und
dafür können uns ein paar Herrenhäuser an der Peripherie gestohlen bleiben.
Zur späten Mittagszeit waren wir da. Kurz hinter der Kapellebrug hatten wir den
Weitwanderweg verlassen. Einfach stur nach Süden waren wir gewandert, bis zum
Ufer des Kanaal Gent-Brugge-Oostende. Dort links und mit der ersten Brücke ab
ins Zentrum. Menschenleer! Wo seid ihr alle?, hatten wir uns gefragt. Ihr könnt
doch nicht alle am Strand rumhängen. Banausen!
So sehr hatten wir
uns noch selten geirrt. Der Zufall hatte uns durch touristisch unbedeutende
Gassen bis zum zentralen Marktplatz geführt. Am Grote Markt bleibt uns die Luft
weg. Menschenmassen wohin das Auge auch fiel. Rundfahrtbusse
mit laufenden Motoren, vor deren Türen ungeduldige
Urlauber Schlange standen. Pferdekutschen zuckelten und ruckelten mit Familien,
meist jedoch mit Paaren, übers holperige Kopfsteinpflaster. An den Anlegern der
Boote für die Kanalrundfahrten waren die Schlangen am längsten. Teilweise so
lang, dass deren Ende hinter der nächsten mittelalterlichen Häuserecke
verschwand. Dazwischen sausten Fahrräder durchs
Gewimmel, scheinbar ohne Rücksicht zu nehmen. Einheimische, die sich routiniert
und schnell einen Weg zwischen bummelnden Touristen suchten. Sommerlicher
Müßiggang traf auf belgisches Alltagsleben. Nicht immer passten da die
Geschwindigkeiten.
Dieser Nachmittag hatte uns erschlagen. Wohlweislich hatten wir uns mitten in
der Stadt ein Hotel gesucht. Eines, dass zu Brügge passt. Etwas teuer, dafür
gediegen und in Familienbesitz. Schon beim Einchecken war uns klar, dass wir am
nächsten Morgen mit unseren Wanderklamotten im barocken Speiseraum auffallen
würden. Aber es gibt Orte, da gehört ein gediegenes Hotel einfach dazu.
Bis in den Abend
waren wir noch durch den überschaubaren historischen Kern gezogen und fanden
nirgendwo Ruhe. Die Geheimtipps der Reiseführer sind eben die Geheimtipps aller
Reiseführer. Die Ruhe und Beschaulichkeit des hoch gelobten Beginenhof findet
Eingang in jeden Reiseführer. Jungs und Mädels der (ab)schreibenden Zunft,
ergänzt eure Texte doch bitte um den Zusatz „Im Sommer, zur Hauptferienzeit, ist
es mit der Beschaulichkeit
und Stille meist nicht weit her!“
Am Abend waren wir uns sicher, dass wir Brügge einen erneuten Besuch abstatten
werden. Irgendwann im Winter, wenn die Touristen ausbleiben. Dann, wenn man ohne
Eile durch eine Kirche gehen kann, wenn einem nicht dauernd Leute mit einer
Kamera vor die Linse springen. Und dann können bestimmt die Kellner etwas mehr
Zeit für ihre Gäste erübrigen, damit man sich nicht wie ein Getriebener
vorkommen muss. Dass wir um diese Jahreszeit nicht mehr auf der Freiterrasse
sitzen können, wäre uns Jacke wie Hose, schließlich wollen wir
nicht für einen Cappuccino dorthin.
Im Nirgendwo
5. Etappe: Von Brügge nach Heille (nl)
Für einen Augenblick rückte der Wunsch, einen Ruhetag dazwischen zu schieben,
damit wir mehr Zeit für Brügge haben, in den Vordergrund. Bei unserem frühen
Aufbruch war die Stadt dermaßen verschlafen, dass uns das Gewimmel vom Vortag
unwirklich erschien. Nein, spätestens mit dem Auftauchen der ersten Busse mit
Tagesausflüglern würden wir uns erneut ärgern. Wie zur Bestätigung tauchte auf
der Damse Vaart, jenem Kanal der Brügge mit Damme verbindet, der Raddampfer mit
den ersten Tagesgästen auf, die ein paar Stunden in Damme verbringen würden. Das
alles nur, weil der Schriftsteller Charles De Coster in seinem Buch „Die
Geschichte von Tyll Ulenspiegel und Lamme Goedzak“, eine der vielen Versionen
des Till Eulenspiegel, in Damme spielen lässt.
Hinter Damme war Schluss. Schluss mit Urlaubern, Schluss mit Autos, Schluss mit
Geschichte und Schluss mit Sehenswürdigkeiten. Wenn man hier mit dem Auto
unterwegs wäre, könnte man mal eben nach Gent rüber flitzen, oder wenn einem der
Sinn nach Badeurlaub stände, einen Abstecher ins niederländische Seebad
Vlissingen machen. Ja, wenn! Uns blieb der Damse Vaart, der ohne ersichtlichen
Grund kurz vor Holland seinen Namen in Kanaal Brugge-Sluis ändern muss. Und uns
blieben Oostkerke, ein kleiner Ort, Hoeke, drei Häuser am Kanal und der erste
Wegweiser für einen holländischen Wanderweg. Das war
an der Selbstbedienerfähre „Kobus“, die, darauf weist ein
neues Schild hin, pfleglich behandelt werden will. Sollte es hier etwa
Vandalismus geben? Unvorstellbar. Kurz vor dem niederländischen Sluis leitet der
Wegweiser die Wanderer von der so nahen Grenze weg. So, als wäre der direkte
Grenzübertritt, die Weiterführung des Weges auf der anderen Seite der Grenze,
nur nach einer wohldosierten Gewöhnungsphase zumutbar. Über Polder, vorbei an
Wiesen und abgeernteten Feldern, wurden wir im Zickzack zwischen
Nationalstraße und Grenze auf Irrgang geschickt.
Wer von außerhalb kennt schon den Spermaliepolder oder den Maldegemse Polder?
Ganz zu schweigen, die Namen all der vielen einsam gelegen, niedrigen Gehöfte
der Großbauern?
Am weißen Grenzpfahl Nr. 354 hatten wir Belgien verlassen. Kaum waren wir drei
Schritte hinter der Grenze, fehlte die Markierung. Nur ein altes verwittertes
Schild für die holländische „Wandelroute Grenspad“ bestärkte unsere Vermutung,
doch auf dem richtigen Weg zu sein. Dass wir uns zu allem Überfluss trotzdem
noch verlaufen hatten, kann mehr meiner Dämlichkeit zugeschrieben werden, als
der fehlenden Markierung. Unübersehbar ragten die Dächer des Tagesziels über das
Grün der flachen Landschaft. Das Verpassen des nahen Tagesziels konnte ich
meiner Frau nur mit der Sommerhitze erklären.
Heille. Wer kennt Heille an der belgisch-niederländischen Grenze? Niemand, bis
auf die wenigen Menschen, die ihren Urlaub auf einem der beiden Campingplätze
verbringen. Wir hatten den im Ort gewählt. Ort ist eine sehr wohlwollende
Umschreibung. Bei Licht betrachtet stehen in Heille nur ein paar wenige
Bauernhäuser dichter beieinander als in der Region üblich. Nein, Laden und
Gasthaus gibt es hier schon lange nicht mehr, erklärte uns die alte Bäuerin, die
zu Nebenerwerbszwecken eine Wiese zum Campingplatz umgewidmet hat; und uns
ungerührt einen Übernachtungspreis abknöpfte, bei dem angesichts des Gebotenen
manche Betreiber südländischer Superplätze vor
Scham rot
anlaufen würden.
Mangels anderer
Möglichkeiten waren wir nachmittags die 2 Kilometer rüber nach Aardenburg
gegangen. Dort konnte man immerhin sinnvoll Geld ausgeben, was dann über Stunden
doch so viel war, dass wir uns das auf dem Hinweg fürs Abendessen auserkorene
Restaurant auf dem Rückweg verkniffen hatten. Weiße Tischdecken, gestärkte
Servietten und teures Porzellan waren für diesen Abend gestrichen. Stattdessen
wählten wir das unbeliebte „Menü-der-tagealten-Reste-aus-dem-Rucksack“. Wenn wir
länger auf Tour sind, kommt dieses Menü mindestens einmal auf den Tisch. Lecker,
besonders
der schon seit Oostende mitreisende Käse.
Kanalwandern
6. Etappe: Von Heille (nl) nach Zelzate (be)
Eins, zwei, drei, vier und eine halbe Seite hatten wir uns für diesen Donnerstag
vorgenommen. Über so viele Kartenblätter verteilt sich der GR 5A Noord, wenn man
von Heille nach Sas van Gent gehen möchte. Nur um die DIN A5 groß sind die
Kartenblätter im Heft. Doch die von uns geplante Strecke nimmt diese viereinhalb
Seiten quer. Am Ende des Tages wollten wir mehr als 40 Kilometer geschafften
haben. Jedenfalls hatten wir uns das vorgenommen.
Unser Aufbruch im Halbdunkel des Morgengrauens war nicht nur der langen Strecke
geschuldet. Hinzu kam, dass das Wetter, ausgehend vom windigen, frischen
Nordseesommer, langsam aber stetig eine Wandlung zum stickig-heißen Hochsommer
in Angriff genommen hatte. Besser schlaftrunken durchs Grenzland schlappen, als
in der Nachmittagssonne schweißtriefende Rekorde im Kilometerfressen aufstellen
zu müssen. Vierzig Kilometer sind vierzig Kilometer, sogar in der Ebene.
Kurz nach dem Start waren wir schon wieder in Belgien. Pennen, schlafen und Geld
ausgeben in Holland, Kilometermachen in Belgien. Für die nächsten Stunden sollte
der Leopoldkanaal unser ständiger Begleiter werden. Mal das rechte, mal das
linke Ufer. Stundenlang. Der Kanal ist nach dem ersten belgischen König benannt,
und ist, wenn man ehrlich ist, etwas langweilig. Schiffe fahren dort schon lange
nicht mehr. Im Zweiten Weltkrieg musste der Leopoldskanaal als
Verteidigungslinie herhalten, mit der die Deutschen die Scheldemündung
kontrollieren konnten. Im September 1944 haben kanadische Soldaten der
„4th Canadian Armoured Division“ dem ein Ende bereitet. In die belgische
Geschichte ist diese Aktion als
"Switchback Operation" eingegangen. Ein paar Panzer
am Wegrand, zum Beispiel der an der zentralen Kreuzung in Eede, und ein Haufen
Infotafeln am Kanal lassen keinen Zweifel, dass diese Zeit so schnell nicht
vergessen werden soll. Panzer am Straßenrand und martialische Denkmäler zur
Erinnerung an angestaubte Heldentaten schlagen mir immer auf den Magen, nicht
nur, weil das Leid der Mensch bei solchen Erinnerungsstützen immer zu kurz
kommt.
Dass die Wegführung entlang des Leopoldkanaals Wanderer nicht stundenlang in
Atemlosigkeit stürzen wird, haben die belgischen Wegmacher vorhergesehen.
Deshalb gibt es genau zwei kleine Umwege, die einige der knapp neben dem Kanal
liegenden Tümpel und stehenden Bäche mitnehmen. Einen Umweg hatten wir uns
gegönnt, aus dem die Erkenntnis gewachsen ist, den anderen zu ignorieren.
Vogelfreunde oder Liebhaber von Rute, Rolle und Haken kommen im Krekengebiet,
unter dem Namen wird das hier zusammengefasst, bestimmt auf ihre Kosten. Wir
eher nicht. Wir machten Strecke und waren heilfroh, dass die zweite Hälfte des Weges
durchs platte Land und die Dörfer führte.
In Sas van Gent war alles dicht. Warum? Weil der Ort in Holland liegt? Weil ein
paar schöne Häuser am Kanal stehen? Wir konnten es kaum glauben. Auf den Straßen
war an diesem Nachmittag kein Mensch zu sehen. Nur am Kanal, diesmal schiffbar
und darum von Freizeitskippern ausgiebig genutzt, war eine Ahnung von
Urlaubsatmosphäre zu spüren. Der im Wanderbuch avisierte Campingplatz ist schon
vor Jahren zum WoMo-Stellplatz degeneriert, also mal wieder ins Hotel. Alles
dicht, beschied uns der Besitzer der beiden einzigen Hotels. Herren über zwei
Hotels haben meist noch ein drittes. Unserer machte da
keine
Ausnahme. In Zelzate, 3 Kilometer den Kanal rauf, könne er uns ein Doppelzimmer
anbieten.
Zelzate gehört zu Belgien. Zelzate, das werden auch die Belgier zugeben, ist
nicht schön. Angeblich hat das Städtchen die miserabelste Luftqualität ganz
Belgiens, was sich mit dem Chemie- und dem Stahlwerk schön einfach erklären
lässt. Chemiewerke direkt an der Grenze zum Nachbarland, zudem an einem Fluss
oder Kanal dessen Wasser das Land bei normaler Strömungsgeschwindigkeit innert
Minuten verlassen hat, sind immer gerne gesehen. Für den einen Abend hatte uns
das nicht gestört, auch weil in Zelzate Kirmes war. Der Zuspruch hielt sich zum
Leidwesen der Schausteller sehr in Grenzen, was einige Besitzer veranlasste,
ihre
Bude zu
verlassen und den Betrieb vom gegenüberliegenden Straßencafé zu beobachten. Als
vorbildliche, auf die Eigenheiten der Einheimischen Bevölkerung Rücksicht
nehmende Touristen, hatten wir es diesen nachgemacht, indem wir unser Geld in
Fleisch- und Kartoffelgerichte investierten.
Geschichten aus dem Krieg
7. Etappe: Von Zelzate (be) nach Hulst (nl)
Tagen wie diesen, möchte man beim morgendlichen Blick in die Wanderkarten nach
Möglichkeit aus dem Weg gehen. Wenn man die erste Stunde ausklammert, führt der
Wanderweg von Zelzate nach Hulst komplett durch Holland. Nun könnte man den
belgischen Wegemachern unterstellen, dass ihnen das Anlass war, einen möglichst
umständlichen Weg zu finden, nur um hin und wieder für 300 Meter heimischen
Boden unter den Füßen zu haben. Zickzackrouten, Ecken und Winkel, Unmengen
Wirtschaftswege und Deichwege trennen Zelzate von Hulst. Die langen Geraden
entlang des Leopoldkanaal, suchten wir in der Karte vergeblich.
Das ist eine Landschaft, wo sich auch der wohlmeinende Verfasser unseres
belgischen Wanderbuchs mit den landschaftlichen Höhepunkten etwas schwer tut.
Der Achtzigjährige Krieg reißt das wieder raus. Während wir, wir sind die, die
aus dem ehemaligen Zentrum des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen
stammen, uns im Schulunterricht mit dem 30-Jährigen herumschlagen müssen, haben
Belgier, Luxemburger und Holländer keine andere Wahl als nochmals 50 Jahre
dranzuhängen. Dranhängen ist so gesehen nicht richtig, denn sowohl der
Dreißigjährige wie auch der Achtzigjährige Krieg wurden 1648 am selben Tag und
Ort beendet. In so'nem Kaff im
westfälischen Münsterland.
Salopp gesagt, sind die Niederländer 1568 auf die Idee gekommen, dass ihnen die
Spanier ganz schön auf die Eier gehen, was nicht weiter verwundern muss, denn
diese hatten sich wie die Axt im Walde benommen. So was passiert, wenn
calvinistische Lebenseinstellung auf inquisitorischen Verfolgungswahn trifft.
Und als Niederländer und Spanier nach 80 Jahren miteinander fertig waren, waren
die Niederländer in einem Aufwasch auch Quitt dem Heiligen Römischen Reich
Deutscher Nationen. Zum Ausgleich für die Haue bevölkern die Holländer seitdem
die Campingplätze Andalusiens.
Im Laufe der 80 Jahre hatten beide Seiten Festungen gebaut, Verteidigungslinien
und Nachrichtenwege angelegt, die bis heute noch Bestand haben – jedenfalls als
Infotafel. Die meisten Bauwerke dieser Zeit sind verfallen. Wo heute noch
Nennenswertes steht, sind die Treffpunkte der Tagesurlauber entstanden. Brügge,
Gent und auch Hulst, von dem wir noch Stunden entfernt waren als ich den
Fotoapparat zückte, um all die vielen neuen Schilder mit den Infos über den
Achtzigjährigen Krieg für Bildungszwecke festzuhalten. Zum Beispiel die schönen,
informativ gemachten Schilder übers Fort Sint-Jacob. Bis auf einen
Wassergraben und graßbewachsene niedrige Wälle ist davon zwar nichts mehr zu
sehen, aber immerhin gibt es Stoff für Infotafeln. Seit diesem Nachmittag warte
ich auf die Einladung von Herrn Jauch und auf die 1-Million-Euro-Frage, in der
nach dem Standort des ehemaligen Fort Sint-Jacob gefragt wird. Ein kleiner Tipp:
Etwas südlich der Kreuzung Eerste Verkorting/Langeweg. Dorthin findet leider
kein Navi, da muss man zu Fuß hin.
Bei 16.000 Euro könnte die Frage nach der Gdynia Bridge auf dem Bildschirm
auftauchen. Ja, natürlich auch wieder eine Infotafel, und klar, auch wieder eine
Begebenheit aus einem Krieg. Warum aber eine holländische Brücke einen
polnisch-englischen Namen hat, wird nicht verraten. Wie gesagt: Ich warte auf
Jauchs Anruf.
Die Fragen nach Hulst könnte die Redaktion im niedrigen vierstelligen
Gewinnsummenbereich ansiedeln. So richtig bekannt ist das Städtchen zwar nicht,
aber das „Carcassonne van het Noorden“ verfügt neben Kopfsteinpflastergassen
über genügend Cafés mit sonnenbeschirmten Terrassen und Restaurants gibt es dort
auch. Abseits der Basilika, um deren Vorplatz sich die Cafés reihen, und der
langen Gasse, die zum zentralen Parkplatz führt, war Hulst am Nachmittag
ausgestorben. Wie so oft: Wo es keinen Cappuccino gibt, finden die Leute nicht
hin.
Dass der Turm der St. Willibrordus Basilika von so einer komischen Spitze
gekrönt wird, hat ebenfalls mit einem Krieg zu tun. Material und Aussehen
sollten genügen, um den passenden Krieg zu finden.
Tot ziens GR 5A Noord
8. Etappe: Von Hulst (nl) nach Antwerpen (be)
In der Nacht hatte es geregnet. Nicht viel, denn bei unserem frühen Aufbruch
waren die Straßen beinahe schon wieder trocken. An einigen Stellen dampfte der
nasse Teer noch, ein untrügliches Zeichen, dass der Regenschauer keine Abkühlung
gebracht hatte. Schon seit Tagen hatte das frische aber warme Nordseeklima Platz
machen müssen für feucht-heißes Kontinentalwetter. Schmuddelwetter, bei dem
schon das Aufsetzen des Rucksacks zu Schweißausbrüchen führt. Ideale Bedingungen
für Pferdebremsen und deren kleinere Ableger, die Rinderbremsen. Im einzigen
Waldstück, das diese Bezeichnung seit Verlassen der Nordsee verdiente, wurden
wir zum
Festmahl für Heerscharen ausgehungerter Bremsen.
Der Morgen war in etwa so, wie das Hotelzimmer der vergangenen Nacht. Ändern
kann man nichts, also nimmt man es hin. Wir hatten das letzte freie Zimmer in
Hulst bekommen. Leider nichts mehr frei, hatten uns alle Hoteliers und die
Touristeninfo beschieden. Bis auf ein Hotel, da war noch ein Zimmer frei. Das
letzte, das niemand sonst mehr nehmen will, weil er sich kurz entschlossen ins
Auto setzten kann und weil es so weit bis zur nächsten Stadt nun auch nicht mehr
ist. Wir hätten zum nahe gelegenen Minicamping gehen können. Mitten im Wald,
wäre das gewesen. Wir wollten
nicht.
Damit ein Hotel zum 3-Sterne-Hotel wird, ist nicht sonderlich viel erforderlich:
Bett, Dusche, Klo, Waschbecken, 2 große und 2 kleine Handtücher, etwas Duschgel
und Seife, Telefon, Fernseher, Heizung und vielleicht noch einen Fön. Das reicht
vollkommen. Für 3 holländische Sterne war der Preis völlig in Ordnung: 70 Euro
für 2 Personen und das Frühstück war auch dabei.
Unser Zimmer hatte zusätzlich sogar eine Terrasse. Dass unsere Terrasse die
Terrasse aller Hotelgäste war, was bedeutet, dass 20 Zentimeter vor unserer
gläsernen Terrassentür fremde Menschen bis weit nach Mitternacht rumlungerten
weil es ihn ihren Zimmern zu warm war, fiel uns erst spät abends auf. Dass unser
3-Sterne-Zimmer in früheren Zeiten eine schnöde Garage war, die mit nicht allzu
viel Fantasie den Wandel zum Hotelzimmer geschafft hat, war uns schon nach 5
Minuten aufgefallen. Wie gesagt. Ändern kann man es nicht, es sei denn, man legt
sich zu den Pferdebremsen im Wald. Außerdem gehören möblierte Garagen mit 3
Sternen zum
Reisen.
Andere Reisende fliegen dafür in die weite Welt, und verklagen hinterher den
Reiseveranstalter auf entgangene Urlaubsfreuden.
Von Westen nach Antwerpen rein zu kommen, ist ganz einfach, sofern das Auto das
bevorzugte Transportmittel ist. Bis zum Ufer der Schelde immer der Autobahn A11
folgen, da kann sich niemand verfahren. Den belgischen Wanderwegmacher ist es
gelungen, dieser Autobahn für weite Strecken aus dem Weg zu gehen. Zumindest,
was den Blick auf den Verkehr anbelangt. Zum ersten Mal gehört hatten wir die
Schnellstraße schon, als wir über den langen Deich, der den Konings
Kieldrechtpolder zum Hinterland abschließt, vom Acker- und Wiesenland ins
Obstanbaugebiet vor der Stadt wechselten. Große alte Bauernhöfe, mit noch
größeren
neuen Hallen, eingekreist von umzäunten Plantagen verloren sich im Einerlei der
Obstkulturen. Die hohen Zäune um Obstbäume muss eine europäische Spezialität
sein. So'n geklauter Apfel treibt bestimmt jeden Obstbauern in den Ruin.
Um die Autobahn waren wir dann doch nicht ganz drum herum gekommen, aber eine
Stunde vor der Stadtgrenze wurde es noch einmal wild. Hohe Bäume, in dessen
dichtem Laubdach Sonnenstrahlen ihre Kraft lassen mussten. Drunter dichtes
Unterholz, in dessen Gestrüpp wir oft den Weg verloren. Ein Haufen wilder
Feuerstellen, die Reste einer Behausung aus Plastikplanen, die ersten
Pappverpackungen bekannter Fleischbratereien, und da war sie wieder, die Straße.
Diesmal nicht die Autobahn, nur ein Ausfallstraße im sonntäglichen Müßiggang.
Das war's, der GR 5A Deel Noord lag hinter uns. Von den 243 und einem halben
Kilometer hatten wir uns um
die 20 geschenkt.
Stadttag
Etappe: Ruhetag in Antwerpen
Belgisch-holländische Nächte haben es in sich. In Hulst sorgten die Zecher auf
der Terrasse für gemindertes Schlafvergnügen. In der ersten Nacht auf dem
städtischen Campingplatz von Antwerpen hatte diese Rolle ein offensichtlich
hormongesteuerter Landsmann übernommen. Liebestrunken und unüberhörbar besoffen,
warb dieser Stunde um Stunde auf Englisch um eine offensichtlich überhaupt nicht
interessierte Belgierin vom Nachbarzelt, die zudem noch mit Freund angereist
war. Dass seine Balzversuche mit jeder weiteren Flasche Bier lächerlicher
wurden, hatte mich mit einer klammheimlichen Freude erfüllt. Nächtliche Stunden
mit dem Gelaber eines besoffenen,
unter
offenkundig großem Hormonstau leidenden jungen Mann mit anhören zu müssen, lässt
das Älterwerden in paradiesischem Licht erscheinen. Beim Aufstehen hatte ich
mich ungemein gefreut, die so heftig Umworbene unter freiem Himmel, doch im
Schlafsack ihres Freundes liegen zu sehen. Es geht nichts über Schadenfreude.
Abends war mein Landsmann verschwunden. Besser konnte der Tag nicht enden.
Antwerpen ist nicht ganz so toll wie Brügge, aber dass wir auf so wenig Besucher
treffen würden hatten wir nicht zu hoffen gewagt. Dies sowohl am Sonntagabend,
wie auch am Montag. Nur selten ruckelten am Montag vollbesetzte Kutschen über
den Grote Markt. Den Großteil des Tages standen sich die Pferde die Beine in den
Bauch und die Kutscher hatten Zeit für ein ausgiebiges Schwätzen.
In Antwerpen
wollten wir uns entscheiden, wohin die Wanderung endgültig gehen soll. Nach
Hause oder doch auf dem GR 5 weiter nach Süden Richtung Luxemburg. Wir wussten
es noch immer nicht, als wir uns auf den Weg in die Van Stralenstraat machten.
Dort hat der Flandrische Wanderverband
„Grote Routepaden“ sein Büro mit
Kartenverkaufsstelle. Freundlich und kompetent hatte man uns dort geraten, mit
dem Bus bis zum östlichen Stadtrand zu fahren. Dort würden wir auf den Renier
Sniederspad (GR 565) treffen, der uns innert eines Tages über Wanderwege zum GR
5 bringen würde, den wir
anschließend nur noch nach Süden folgen müssten. Ganz einfach. Leider führt der
GR 565 ein gutes Stück nach Norden, also Richtung Holland. Wir wollen jedoch
nach Südwesten. Versehen mit einem neuen Wanderbuch sowie einigen
topographischen Karten standen wir eine Stunde später wieder auf der Straße.
Bus fahren kam nicht in die Tüte, Richtung Norden auch nicht. Am nächsten Morgen
würden wir uns eine schöne Ausfallstraße suchen, eine die uns bis zum
Albertkanaal führen würde, um diesem nach Westen bis zum GR 5 zu folgen. 30
Kilometer Straße, Kanal- und Radwege! Überwiegend Kanalwege. Was soll es! Darin
sind wir groß. Zwei Tassen Kaffee später war auch klar, dass wir dem GR 5 nicht
nach Luxemburg folgen würden. Höchstens bis Maastricht. Von dort schnurstracks
nach Hause. Unausgesprochen waren wir uns sicher, dass wir ab Antwerpen den
Streckenverlauf des GR 5 sehr frei interpretieren würden.
Fotos: Werner Hohn
Erschienen in "Wege und Ziele" Zeitschrift des Vereins Netzwerk Weitwandern e.V. Ausgabe 36 - Dezember 2011
Zu Fuß von der Nordsee in die Eifel
Teil 2: Von Antwerpen zum Rurstausee
Von Werner
Hohn
Ein
Kanaltag auf Radfahrers Wegen
9. Etappe: Von Antwerpen nach Lindekens
Morgens, wenn Städte noch schlafen, sind Städte
angenehm, sofern man zu Fuß hindurch möchte. Wir mussten vom westlichen Ufer der
Schelde an die östliche Stadtgrenze, die ich großzügig in Wijnegem am
Albertkanaal zog. Übern Daumen sind das 12 Kilometer Luftlinie, in der Praxis
maximal einer mehr. Ein Hoch auf linialbewehrte Stadtplaner! Wie gesagt: Morgens
kann man das machen. Wir waren so früh dran, dass wir alleine waren auf der
leise quietschenden, holzverkleideten Rolltreppe des Sint Annatunnels, die
Wanderer und andere Fußgänger unter die Schelde bringt.
Für Radfahrer gibt es große Lastenaufzüge, aus deren
großen Türen, wenn es in der Stadt brummt, sie einen Schnellstart hinlegen -
allen Unkenrufen oder Lobpreisungen zum Spott, der Belgier sei gemütlich. Jedoch
der in feste Arbeitszeiten eingebundene Belgier hat es hin und wieder eilig,
wenn für die Föhnfrisur mehr Zeit draufgegangen ist als geplant zum Beispiel;
und so wird schon mal, eigentlich immer, jenes gutgemeinte und von Fußgängern
mit Wohlwollen bedachte Fahrverbot für Radfahrer im Tunnel von Letzteren
großzügig missachtet.
Wer wie wir den Belgier nur von Campingplätzen am
südlichen Rand Europas kennt, wo dieser mit Liebe die allerletzte Falte aus dem
Vorzelt zieht oder sein Auto mit einer silberglänzenden Plane abdeckt - der
besonders Gewissenhafte nimmt selbstverständlich die Originalfahrzeugabdeckung
in Wagenfarbe vom Hersteller - der ist schon erstaunt, wenn ihm radelnde
Radfahrer im Fußgängertunnel unter der Schelde den Gehweg streitig machen.
Neben einem belgischen Wohnwagen kannst du immer dein
Zelt aufbauen, das verspricht ruhige Nächte und auf Dauer wird sich eine
angenehme Nachbarschaft entwickeln. Jahrelang hatten wir nach dieser Devise
unser Zelt auf spanischen oder italienischen Campingplätzen neben belgische
Wohnwagen gestellt und wurden nie enttäuscht. Der Sint Annatunnel hatte uns die
andere Seite der Belgier gezeigt, oder war es die der Stadtbelgier?
An diesem Morgen war der Tunnel leer. Die Türen der
Lastenaufzüge blieben geschlossen. Geschlossen waren ebenfalls noch die Türen
der Cafés und Kneipen. Ausgerechnet in einem Studentencafé am Stadtcampus der
Universität war die Kaffeemaschine schon warmgelaufen. Endlich Kaffee, endlich
Drogen.
Raus aus der Stadt, über Radwege am Rand der N12. Den
Startpunkt des Renier Sniederspads ignorierend, den Verkehr ignorierend, das
Ortsschild Wijnegems registrierend, wenige hundert Meter nur noch bis zum
Kanalufer. Stadt adé. Eine Pause auf der Bank an der Wijnegemsluis, und fünf
Gemüsefrikadellen später waren wir wie so oft wieder einer Meinung, dass es so
schlimm nun auch nicht war.
Dem
Albertkanaal wollten wir bis Grobbendonk folgen, dort, auf der Brücke am
Dorfrand, würden wir auf den GR 5, auf den Europäischen Fernwanderweg 2 treffen.
Der GR 5 führt nach Maastricht, der Albertkanaal ebenfalls. Der GR 5 führt
weiter nach Liège, der Albertkanaal ebenfalls. Bis Liège wollten wir zwar nicht,
aber bis Maastricht. Schon an der Schleuse in Wijnegem war abzusehen, dass der
Kanal für uns noch eine Rolle spielen sollte.
Kanalwandern ist einfach. Alles ist flach
und wenn einem der Sinn nach Verlaufen steht, muss man schon kreativ werden. So
gut wie jeder Kanal wird von Wegen begleitet, und seien es nur Trampelpfade. Der
Albertkanaal hat breite Wege, so breite, dass uns die Radfahrer auf dem Radweg,
der uns nach Grobbendonk bringen würde, locker umfahren konnten.
Jenes taten diese dann auch gekonnt. Stunde um Stunde.
Es war warm. Von Nordosten wehte ein angenehmer Wind übers Wasser. Der Himmel
war blau. Die wenigen Wolken weiß. Die Binnenschiffe groß. Kurzum, der Tag war
schön.
Nur, an jedem Abzweig standen diese komischen
Wegweiser, diese Pilze aus weißem Kunststoff. Für Radfahrer sind die. Für
Menschen, die sich Geräte an den Lenker montieren, die Kilometer zählen und
diese anzeigen können, die
Geschwindigkeit
messen und diese anzeigen können, die den Puls zählen, den Kalorienverbrauch,
die Zeit und selbstverständlich die Durchschnittsgeschwindigkeit errechnen und
anzeigen können. Menschen, die diese Geräte haben, lieben vermutlich diese
weißen Kunststoffpilze, für die sind diese schließlich auch gemacht. Das sind
die Knotenpunktwegweiser für die belgischen Radwege. Am
Kanal sieht jeder aus wie sein Nachbar, wenn da die Nummer nicht wäre. Oben
drauf steht die Nummer, die Adresse, die Hausnummer sozusagen. Es ist zu
befürchten, dass es eine dicke Liste gibt, in der fein säuberlich Nummer,
Standort und Aufschrift festgehalten wird. Die Nummer interessiert keinen
Menschen. Nur das Wohin, das Woher und das Wieweit ist von Belang. Als Radfahrer
fliegt man höchstwahrscheinlich vorbei, registriert, dass man auf dem richtigen
Weg ist, überschlägt kurz die Zeit bis zum Ziel und ist weg. Bis zum nächsten
Abzweig ist es nicht weit. Dort wird wieder ein Knotenpunktwegweiser stehen.
Fußgänger sehen darin Folterinstrumente. Wir
jedenfalls. An jedem Abzweig steht so ein Pilz. Langsam schält sich so'n weißes
Plastikding aus dem sommerlich kurzen Grün des Randstreifens. Es wird den Blick
fesseln, bis man davor steht, um schon wieder festzustellen, dass sich seit dem
letzten Ding die Vorkommastelle zum heutigen Etappenziel immer noch nicht
geändert hat. Wird diese dann endlich einstellig, was die baldige Ankunft
verspricht, ist der Kopf so ausgelaugt vom ewigen Errechnen und Anpassen der
ETA, dass dieser nur noch die reale Ankunft als Ziel gelten lässt. Wir kennen
das zu Genüge von anderen Radwegen, von den
neuen Wanderwegen, die GPS-vermessen ebenfalls mit Nachkommastellen protzen. Was
für‘n Blödsinn.
Beim zweiten oder dritten Pilz freuten wir uns schon
auf den hoffentlich letzten, den vor der Brücke, wo wir auf den GR 5 treffen,
den Kanal verlassen würden. Danach, maximal einen Kilometer später, hoffentlich
einer ohne Pilze, würden wir auf dem Campingplatz der Belgischen Naturfreunde
auflaufen, und vorbei wäre es mit den Pilzen, die Entfernungen mit einer
Nachkommastelle angeben.
Nachmittags
waren wir da. Hinterm Haus des „A.T.B. - De Natuurvrienden“, der Belgischen
Naturfreunde in Lindekens, fanden wir einen von Bäumen und Büschen umschlossenen
Campingplatz vor. Zwei Reihen Wohnwagen, deren Besitzer alle ohne Sichtschutz
auskamen, die ihre Tische zur Mitte, zur Gemeinschaft hin aufgestellt hatten und
etwas versteckt, hinter einer Hecke der Kinderspielplatz, einer der in die Jahre
gekommen war. Kinder spielen auf dem Platz nicht mehr die allergrößte Rolle,
stellten wir mit Bedauern fest. Der Campingplatz der Naturfreunde dort ist klein
und gehört zu der Sorte, wo man seinen Geldbeutel verlieren
darf, denn diesen wird man sicherlich zurückbekommen. Vermutlich sogar mit nach
Nennwert sortierten Banknoten und die Flusen, die sich so gerne in selten
genutzten Fächern ansammeln, würden bestimmt verschwunden sein. Vielleicht
hatten wir uns das auch nur eingebildet. Dieser kleine Platz hinter dem weißen
Haus, welches wie ein Schutzwall vor der Zeltwiese stand, war heile Welt aus dem
Baukasten für Heile Welten.
Wanderer mit Zelt kommen auf dem Platz nicht mehr so
oft vor wie vor Jahren, als der E2 geschaffen wurde, aber an „Noordzee-Rivièra“
würden belgische und holländische Sucht-Wanderer nicht vorbei kommen, erzählte
uns der alte Mann, der in dieser Woche den Platz betreute. Es sind so gut wie
immer alte Frauen oder alte Männer - egal ob ehrenamtliche Platzbetreuer oder
Wanderer auf dem E2.
Kirchentag
10. Etappe: Von Lindekens nach Averbode
Kilometerschrubben stand an diesem
Mittwoch auf unserem Beschäftigungsplan. Mal wieder, wie meine Frau unbedingt
anmerken musste, als wir im Morgengrauen auf dem Bürgersteig vor dem
Naturfreundehaus standen und beim Blick ins Wanderbuch die Überlegung
anstellten, der offiziellen Streckenführung treu zu bleiben oder doch die ein
oder andere Gerade einzubauen. Viel Zickzack versprach uns die erste Karte im
Wanderbuch, die zweite kam uns auch nicht viel besser vor, auf der dritten Seite
würde unser Tag enden, zum Glück in einem langgezogenen Bogen, dem wir die Ehre
einer Geraden zustanden. Sozusagen die Vorfreude auf den Schlussakkord.
Motivationsmäßig war das unbedingt nötig. Nicht wegen der Landschaft, das Wetter
würde uns jegliche Motivation rauben.
Der Wetterbericht hatte für die nächsten Tage stabiles
Sommerwetter versprochen. 30 Grad Celsius und mehr. An der immer noch nahen
Nordseeküste würden die Urlauber endlich ihre Tage im Genuss mediterraner
Urlaubsfreuden verbraten können.
Wir nicht, wir würden schwitzen, stöhnen und klagen.
Wir würden schattige Wege suchen, neidisch auf die Kühe starren, die ihren Tag
im schmalen Schatten dünner Windschutzhecken und junger Alleen verbringen
würden. Dunklen Wäldern - in dieser Region eigentlich eine schamlose
Übertreibung - denen wir auf unseren Wanderungen meist keine große Sympathie
schenken, würden wir an diesem Tag hinterherlaufen müssen und keine finden.
Morgens
um 10 Uhr, wenn sich andere zur Früh-stückspause eine Auszeit nehmen, war es
schon so heiß, dass wir froh waren um den schnurgeraden Weg über die ehemalige
Bahnstrecke der „Lijn 29“ im Wald zwischen Noorderwijk und Olen. Flach, breit
und eben sonniger Schatten - immerhin etwas. Innerhalb weniger Stunden waren wir
anspruchslos geworden. Hitze macht bescheiden. Tiefer, kühlender Schatten, wo
einen das schweißnasse T-Shirt die Gänsehaut über den Rücken treibt, blieb ein
Wunschtraum. Lange Strecken durchs offene Land erreichten den Status einer
Wüstendurchquerung. Auf den Wegen
zwischen den Wiesen und Feldern, nährte für Viertelstunden so manche sich in der
Ferne abzeichnende Baumreihe unser Sehnen nach Schatten, welche dann doch
zerstob, weil uns die Markierung meist auf Wegen hielt, die unter der
flimmernden Augusthitze zu leiden schienen.
Wir waren alleine unterwegs. Die allgegenwärtigen
Radfahrer der vergangenen Tage fanden entweder nicht den Weg in diese mehr oder
weniger unbekannte Gegend, oder ihnen war schlicht und einfach zu heiß. Sogar
die Autofahrer machten sich rar.
Der Parkplatz vor der Klosteranlage vor der Abdij
Tongerlo war leer. Der große Innenhof war ausgestorben. Kein Mensch weit und
breit. Bis auf das leise Plätschern eines Brunnens war kein Laut zu hören. Vor
den Ziegelsteinmauern staute sich die Hitze. Die schwarzen Schieferdächer
schienen unter der gleißenden Mittagssonne zu leiden. Die Tür zur Kirche war
verschlossen. Rechnete man an diesem heißen Tag nicht mit Besuchern, oder sieht
man diese als potenzielle Kirchenschänder? Im schattigen Torbogen des Eingangs
saß die Mitarbeiterin des Klosterladens. Müde winke ich ab, als sie sich von der
Bank erheben
wollte. Kaufen wollte ich nichts, nur die Kühle des Ladens genießen.
Später
saßen wir im Schatten der „Kapel van de Maarschalk", die zum Gedächtnis an den
Feldmarschall Filips-Eugen de Merode (1674-1732) errichtet wurde, und erfuhren,
warum neben vielen mitteleuropäischen Kapellen ein Lindenbaum steht. Heidnische
Ursprünge, die germanische Göttin Freya, und so weiter. Das waren unsere 10
Minuten aus der Rubrik „Bildungsreisen, die nicht im Bildungsreisenkatalog
angeboten werden“. Die Rast an der Kapelle glaubten wir dem alten Marschall
schuldig zu sein. Seinen Familiensitz wenige Minuten vorher hatten wir uns trotz
wohlwollender Beschreibung im Wanderbuch geschenkt. Hinter dichten Bäumen
versteckt war von der Straße so
wenig vom Herrensitz zu sehen, dass wir uns die erste Abkürzung des Tages
zugestanden hatten. Als Belohnung gab es eben die Kapelle des Marschalls in
Bergom.
Später
am Nachmittag war ein schwacher Wind aufgekommen. Warme Luft waberte durch den
Klosterhof der Abdij van Averbode. Müde bewegte sich leichter Fahnenstoff bunter
Flaggen vor dem Portal im Innenhof. Im Gegensatz zur Abtei Tongerlo, war der
Innenhof hier gärtnerisch gestaltet. Schatten und Kühle spendende Hecken und
Bäume nahmen dem Platz jedoch die Größe. Von irgendwoher ließen sich Stimmen
vernehmen. Irgendwo da oben waren offene Fenster, irgendwo im Innern der Abtei
waren Menschen. Draußen, dort wo es heiß war, waren wir alleine, da standen nur
die Autos des Klosters. Natürlich war
auch diese Klosterkirche verschlossen.
Auf dem Campingplatz nur wenige hundert Meter neben dem
Kloster war man erstaunt. Obwohl direkt am GR5 gelegen, kommen nur wenige
Wanderer auf den unter schattigen Kiefern gelegenen Platz. Urlauber sind auch
selten. Man lebt von den vielen Dauercampern, deren Bestreben einzig das
Vergrößern ihrer Behausung zu sein scheint.
Kurztag
11. Etappe: Von Averbode nach Diest
Kurz nach Sonnenaufgang standen wir schon neben den
gepackten Rucksäcken – und waren schweißnass. Die Nacht war eine einzige
Quälerei gewesen. Am Abend des Vortages war es noch schwüler geworden, so dass
alle mit einem heftigen Gewitter rechneten. Wir auch, wir sehnten uns danach. Es
hatte kein Gewitter gegeben. Wir würden mit der alles erdrückenden Schwüle leben
müssen. Wir würden abkürzen, gewaltig abkürzen sogar. Wir würden den „Grote
Routepad GR 5“ verlassen, jedenfalls für heute. Wir würden die kürzeste
Verbindung wählen. Von Averbode nach Diest sind es über den GR
5 gut und gerne 20 Kilometer, entlang der Straßen nur 9. Zweifellos würden wir
die Straße nach Diest nehmen.
Zur
späten Frühstückzeit plumpsten wir zum ersten Mal in die Stühle der Straßencafés
auf dem Grote Markt von Diest. An diesem Tag sollte es noch oft „Plumpsen“.
Mittags durften wir endlich ins Hotelzimmer. Der freundliche Besitzer hatte uns
ein Eckzimmer zugestanden. Vier Fenster ohne Rollläden. Zwei
nach Süden, zwei nach Westen, dem Sonnenlauf folgend. Wir würden den Tag
woanders verbringen müssen: Auf den schattigen Terrassen der Kneipen, in den
gekühlten Supermärkten, unter dem dichten Laubdach der Bäume im Stadtpark, am
Ufer der Demer.
Und trotz der Hitze waren wir lange im kleinen
Beginenhof des Städtchens. Wir waren dort ganz alleine. Nur einmal fuhr ein
alter Mann in dunkler abgetragener Kleidung mit einem alten rasselnden Fahrrad
über eines der Kopfsteinpflastersträßchen.
In
Diest ist der Beginenhof überschaubar. Die kleinen, liebevoll restaurierten
Häuser werden nur von der St. Katharinakerk überragt. Dass dieser Beginenhof
kein Museum ist, davon zeugte das ein oder andere geparkte Auto, die vielen
gepflegten Innenhöfe, die an die Hauswände angelehnten Fahrräder und das Fehlen
von Touristen. Wohlwollend registrierten wir das Fernbleiben kulturbeflissener
Bildungsbürger. Es war so still im Beginenhof an diesem Nachmittag, dass wir
über die Geräuschkulisse der nahen Stadt staunten – und Diest ist wahrlich kein
lautes Städtchen.
Lag es an der Hitze, oder schafft Diest es wirklich
nicht bis in die Reisekataloge? Noch nicht einmal als Busreise für
Tagesausflüge?
Uns hatte Diest gefallen, weniger wegen des Grote
Markt, solche Plätze haben viele flämische Städte; und toll in Schuss sind die
eh überall. Der Beginenhof war's. Nicht, dass wir deshalb unbedingt erneut
dorthin müssen, aber gut, dass es noch Plätze gibt, die von Urlaubern nicht
überlaufen werden.
Abends hatte es endlich gewittert. In Sekunden standen die Straßen unter Wasser. Für einen Augenblick sah es nach Weltuntergang aus. Danach glänzte die Stadt. Nur die Fassaden der aufgeheizten Häuser ließen erahnen, wie heiß es gewesen war. Eine Nacht würde zur Abkühlung nicht langen, jedoch würde der kommende Tag, wenn auch erneut heiß angekündigt, viel angenehmer werden. Der Wind hatte auf
Nordwest gedreht.
Wahre
Traumpfade
12. Etappe: Von Diest nach Hasselt
Goldsteig? Rheinsteig? Eifelsteig?
Es gibt durchaus Wanderrouten die mehr „ziehen“, mehr Fremde mit sich
tragen. Der „GR 5/E2 Noordzee-Riviera“ gehört dazu. Schon der Name,
„Noordzee-Riviera“! Jeder Entwickler von Traumpfaden würde vor Neid erblassen.
Zur „Riviera gehen“, das alleine reicht schon fürs Fernweh. Nicht einfach ans
Mittelmeer, an die Riviera; und selbstverständlich geht kein Mensch in die
Gegenrichtung.
Für solch ein Ziel braucht's keine wie auch immer
gearteten Höhepunkte, soundsoviel Prozent Wiesenweg, soundsoviel Prozent Pfad
und nach Möglichkeit keinen Meter Asphalt. Wer von der Nordsee bis zur Riviera
gehen möchte, wenn möglich auch noch am Stück, würde spätestens bei der Ankunft
in Nizza das ein oder andere Stück Asphalt, die ein oder andere monotone Etappe
vergessen haben, denn die Durchquerung Europas zu Fuß sollte mehr sein als die
Summe der Trampelpfade.
Einen
kurzen Augenblick hatten wir gezögert als unter dem hölzernen Wegweiser am Rand
der Diester Umgehungsstraße standen. Doch Richtung Süden? Vielleicht bis an die
Riviera? Doch nicht in ein paar Tagen rüber zur Eifel abbiegen? Man könnte,
müsste halt nur wollen. Kilometerlang haben wir gesponnen, gerechnet und
mögliche Ausstiegspunkte, von wo aus meine Frau die Heimreise hätte antreten
können, im Kopf durchgespielt. Ende September in den Westalpen? Nicht mehr zu
schaffen? Kopfwandern, eine unserer Lieblingsbeschäftigungen wenn sonst nichts
los ist auf dem Weg. Wegweiser
dieser Art gibt es leider nicht mehr allzu viele. Denen, die vor Jahren mit
Euphorie aufgestellt wurden, als die ersten Europäischen Fernwanderwege markiert
wurden, sieht man ihr Alter an, und die früher oft zu sehenden kleinen Schilder,
die auf einen E-Weg hinweisen verschwinden mehr und mehr. Schade.
Gestern
hatten wir uns den GR 5 komplett gespart. Heute würden wir diesem vorerst
folgen. Doch den großen Bogen um die Rennstrecke bei Zolder würden wir mit
Sicherheit auslassen. Heidelandschaft hin, Wald her. Am Schluss würden wir die
Strecke gütlich aufgeteilt haben. Die erste Hälfte offizieller Wanderweg, die
zweite Hälfte entlang des Kanals. Die erste Hälfte war ereignislos. Die zweite
Hälfte auch. Eine alte Frau aus Lummen hatte uns ein Stück begleitet. Sie war
mit dem Rad am Kanalufer unterwegs. Wenn das Wetter mitspielt, macht sie das
jeden Tag. An dem einen Tag Richtung Herentals, am nächsten Richtung Hasselt.
Bis Hasselt war sie schließlich nicht mehr bei uns geblieben. Wir waren ihr viel
zu langsam. Zum Wandern fährt sie in die Berge, meist nach Österreich. In
Belgien war sie noch nie wandern.
In
Hasselt war was los. Überall Polizei, Straßensperren für Autos, Absperrgitter
für Fußgänger und jede Menge Volk auf den Straßen. Uns schwante, dass es heute
mit einem Hotelzimmer eher schlecht ausgehen könnte. Hasselt war im
Radsportfieber. Hinter dem mit Werbung gepflasterten Zieleinlauf drängten sich
die Zuschauer schon in Fünferreihen. Das belgische Fernsehen hatte seine Kameras
in Stellung gebracht, und ehe wir uns versahen, bog der Werbekonvoi um die Ecke.
In weniger als einer Stunde wurde die Spitzengruppe erwartet.
Heute gibt es in Hasselt kein einziges freies Zimmer,
beschied uns das Team vom Tourismusbüro. Ich gehöre zu den Menschen, die das nie
glauben. Nach einer Stunde war ich bekehrt. Vom preiswerten Ibis Hotel bis hoch
zum Radisson Blu hatten wir alle Innenstadthotels abgeklappert. Im Holiday Inn
empfahl uns eine sehr blasierte Empfangsdame den Zieleinlauf abzuwarten.
Gelegentlich benötigen die Radsport-Teams nicht alle reservierten Zimmer. In
zwei Stunden würde sie mehr wissen. Sie sah danach aus, als würde es ihr Freude
machen, uns um 17 Uhr einen abschlägigen Bescheid zu geben. Nein
Danke, wir
würden uns auf den Weg ins 12 km entfernte Genk machen, dort so hatte man uns
gesagt, gibt es noch Zimmer.
„kamers/bed & breakfast“ stand auf dem Schild, darüber
der Name der Unterkunft: „Amazing“. Meiner Frau war das Schild aufgefallen, eben
als wir Hasselt hinter uns lassen wollten. Das Haus im Stil einer kleinen Villa
an der Ausfallstraße nach Genk versteckte sich hinter einer hohen blickdichten
Hecke. Dass für den I-Punkt in „Amazing“ ein rotes Herz herhalten musste, hatten
wir geflissentlich übersehen. In der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen.
Auf dem Parkplatz hinten im Hof, von der Straße nicht einsehbar, trafen wir vier
junge Männer aus Luxemburg, die bei unserem Auftauchen sichtbar Probleme hatten,
ihr Grinsen zu unterdrücken.
Wie lange wir bleiben möchten? Ein paar Stunden oder
die ganze Nacht, begehrte die nicht mehr taufrische Besitzerin von uns zu
erfahren. Ganz offensichtlich hatte sie unsere im Hof abgestellten Rucksäcke
noch nicht gesehen. Bei 70 Euro fürs Zimmer ohne Frühstück wurden wir uns einig.
2 Stunden hätten 30 Euro gekostet. Das Zimmer unterm Dach wurde von einer
dröhnenden kühlschrankgroßen Klimaanlage konstant auf Kühlhaustemperatur
gehalten. Alles war extrem sauber und aufgeräumt. Jedes Ding hatte seinen Platz.
Schneeweiße makellose Handtücher wetteiferten mit makelloser Bettwäsche.
Offensichtlich hatte hier jemand Hand angelegt, der der Welt nussbaumbarocker
Gästezimmer den Kampf angesagt hatte.
In einer schmalen Infomappe wurden die Stundenkunden
darauf hingewiesen, dass das Haus neben ihnen auch Gäste beherbergt, die mehr
als nur ein paar Stunden bleiben möchten. Ein dezentes Schälchen enthielt zwei
Kondome. Leider ging die Sorge um das Wohlergehen der Gäste nicht so weit, für
eine vernünftige Bettdecke zu sorgen. Eine superdünne Tagesdecke war zwar der
Jahreszeit angemessen, entsprach trotzdem nicht unserer Vorstellung einer
Bettdecke. Wir würden im Schlafsack nächtigen. Entgegen unserer wildesten
Fantasien wurde es eine sehr ruhige Nacht. Neben uns und den
vier Männern aus Luxemburg hatten sich keine weiteren Gäste in dieses etwas
spezielle B&B verirrt.
Tot
ziens, Vlaanderen
13. Etappe: Von Hasselt nach Maastricht
Die Spinnereien des Vortages waren passé. Wir würden
Richtung Heimat gehen, ob bis vor die eigene Haustür, war noch nicht abzusehen.
Die Zeit würde knapp werden. Maastricht musste es an diesem Samstag schon
werden. Wir waren am Punkt 76 in unserem Wanderbuch. Nächster Halt, Punkt 94,
plus x, wenn wir bis ins Zentrum wollten.
Für die Kilometerangaben im Topogids müssen markante
Punkte, Sehenswürdigkeiten oder Abzweige herhalten. Damit niemand mit den
Punkten durcheinander kommt, haben alle eine Nummer, die fein säuberlich in
einer Tabelle zusammengefasst sind. Schätzen oder die Entfernungen in der Karte
abgreifen, wird einem so abgenommen.
Punkt
76 ist im Buch die Schleuse Godsheide, in deren Nachbarschaft unser B&B zu
finden war, in dem wir die letzte Nacht verbracht hatten. Punkt 94 ist die
Kanalbrücke Veldwezelt am Stadtrand der niederländischen Stadt Maastricht. Die
Tabelle ist, was Entfernungen angeht, pingelig und gefühllos: 76: Sluis
Godsheide 198, 1 km; 94: Kanaalbrug Veldwezelt
250,1 km; Wir mussten „plus x“ dazu rechnen; x hatten wir geschätzt: im
Selbstbetrug einigten wir uns auf 2 Kilometer. Auf der zweistelligen
Endabrechnung stand 'ne 50 vorm Komma. Doch auf zwei Tage aufteilen? Damit wäre
die heimische Haustür endgültig passé. Gewaltmarsch? Selbst jahrzehntealte
Ehen haben Belastungsgrenzen, die aus gutem Grund noch nie getestet wurden.
Dabei wollten wir es belassen. Die Strecke musste kürzer werden!
Der Nationalpark Hoge Kempen würde dran glauben müssen
Einen kurzen Abstecher in die Grote Heide hatten wir uns gegönnt.
Tannenwald, Heide, ein Moor, aufgelassene Kiesgruben. Abgelegen und still, doch
uns lief die Zeit davon. Wir wollen wiederkommen, hatten wir uns vorgenommen.
Vielleicht für ein Wochenende, so weit weg ist das schließlich nicht. Mit dem
Auto keine 3 Stunden, zu Fuß eine Woche. Wir hatten es eilig. Wir nahmen erneut
die Wege am Albertkanaal. Den kurzen Abstecher in die Heide hatten wir uns nur
erlauben können, weil wir schon ab dem Start den direkten Weg entlang des Kanals
genommen
hatten.
Von
Genk hatten wir morgens nur die Schleuse, das Gaskraftwerk und die Rückansicht
des Ford-Werkes gesehen. Ein Frachter aus Bulgarien lag schon seit Wochen am
Kai. Fracht in Richtung Heimat war nicht zu bekommen, erzählte mir ein Mann von
der Besatzung. Seit Wochen war man am Rostklopfen oder Deckschrubben. Irgendwas
muss man schließlich tun. Nicht, dass die zwei Binnenschiffsmatrosen auf dumme
Gedanken kommen. Eine Frau hatte nur der Kapitän dabei. Vielleicht sollte er es
uns nachmachen und zu Fuß nach Hause gehen. So wie das jetzt abläuft, wird er
seine Frau erst
wiedersehen,
wenn sie einen anderen hat.
Am Punkt 94 lag Flandern hinter uns, Nur noch ein paar
Schritte über die Brücke, und wir wären in Holland. Vom Nordwesten bis in den
Südosten hatten wir das flache Land durchwandert. Jacques Brel hat es besungen.
Der flämische Text von „Mijn vlakke
land“ (fr. Le plat pays) fehlt in den Topogids. Besonders dem Buch für den GR
5A, der „Wandelronde van Vlaanderen“ würden die Zeilen gut zu Gesicht stehen. Es
ist alles da, was Brel besungen hat. Von den „hooge duinen“, dem Strand, der bei
Ebbe „woest is als en woestijn“ bis hin
zu den „torenspits van hemelhoge kerken, die in dit vlakke land de enige bergen
zijn“. Vermisst haben wir „de noordewind“. Wir hätten ihn gebrauchen können.
Dass er „onze adem steelt“ hätten wir an den drückend-heißen Tagen im August in
Kauf genommen. Wir hatten „zuidenwind“ unter dem das Land tagelang gestöhnt
hatte. Es war ja auch schon August. Einen Monat zu spät. Wir werden
wiederkommen, dann im Juli, nur um zu sehen, ob Jacques Brels Textzeilen vom
Südwind der durch die Getreidefelder weht, immer noch zutreffen. Seine
ausgedruckten Textzeilen werden dann erneut im Gepäck sein.
Hollands
Bergwelt
14. Etappe: Von Maastricht nach Aachen
Wiederum
würden Nummern unseren Tag bestimmen. In den letzten beiden Wochen waren es die
Nummern für die Wegabschnitte in den Topogids der belgischen Wanderbücher, die
es in der Natur aber nicht gibt. An diesem Sonntag sollten es die Nummern des
niederländischen „Fietsknooppunt“-Systems sein, die in jeder Radkarte und sogar
auf den Schildern zu finden sind. Mithilfe der Radwanderkarte für Ziud-Limburg
hatten wir uns eine schöne, fast direkte Verbindungsroute Maastricht - Aachen
zusammengestellt. Der Einfachheit halber größtenteils eine Radroute. Dort, wo es
möglich und sinnvoll wäre,
wollten wir die Radroute verlassen, uns einen kürzeren, vielleicht sogar
schöneren Weg suchen. Radfahrer lieben bekanntlich keine Steigungen. Mulden,
Senken, kleine Täler würden wir nicht wie diese umfahren, sondern Pi mal Daumen
durchwandern. Unsere Knotenpunkte für diesen Tag: 79, 6, 65, 67, 68, 59, 86, 89,
93, oder einfacher: 33 Kilometer von Maastrichts Stadtmitte bis zur
Jugendherberge in Aachen.
Die
Provinz Limburg ist Hollands Süden und genau wie in der Schweiz und in
Deutschland, sind dort die höchsten Berge des Landes zu finden. Der Süden
Limburgs hat rein gar nichts mit dem klischeehaften Hollandbild der Urlauber zu
tun. Keine Kanäle und Grachten, keine Deiche und Siele, keine
Polderlandschaften, deren Grenzen sich im niedrigen Himmel verlieren. Im Süden
Limburgs kann man Berge hinauf gehen. Wenn einem der Sinn danach steht, sogar
auf den höchsten Berg der Niederlande steigen. Der Vaalserberg ist 322,7 m hoch.
Klar, Berg ist eine schamlose Übertreibung, deshalb
spricht die Wikipedia nur von einer "Erhebung". Wir waren nicht auf dem
Vaalserberg, obwohl es von dort nicht weit bis zur
Aachener Jugendherberge gewesen wäre. Unsere Radkarte gab das einfach
nicht her. An dem Tag hatten wir das bedauert; sehr viel später erfuhren wir,
dass der Vaalserberg seinen Titel verloren hat. Ein karibischer Vulkan auf Saba
(für Google: Niederländische Antillen, Besondere Gemeinden) ist nun offiziell
der höchste Berg der Niederlande. Wir haben also nichts verpasst.
Raus aus Maastricht und in einem langezogenen Anstieg hinauf nach St Antoniusbank. Nach 2 Wochen flaches Land beim Blick zurück endlich wieder Fernsichten. So weit kann man sehen! „Schau mal, da waren wir vor 2 Stunden“ und „Guck mal da rüber“. Was ein paar Höhenmeter bewirken. Runter ins Tälchen, hoch nach Wolfshuis. Oben an der Straße eine Windmühle, eine Bank unter Bäumen. Hinsetzen und sich sattsehen. Eine sanft gewellte Hügellandschaft, beinahe schon wieder zu flach. Wiesen mit Senken und Kuhlen, durchzogen von Bäumen und Hecken. Eine kleine Kuhherde trottet einen Hang entlang. Radfahrer, eben noch bei uns, verschwinden im Tälchen und radeln Minuten später am anderen Ende der Landschaft wieder ins Bild. Landschaften können schief sein, Horizonte an und absteigen, ausfransen, erstaunlicherweise sogar irgendwie auslaufen. Die Lineale, die Geraden, die Wasserwaagen haben ausgedient. Die Topografie gibt
die Wege vor.
In
Gulpen reihten wir uns für kurze Zeit in die Gruppe der sonntäg- lichen
Müßiggänger ein. Kaffee und Kuchen, noch 'nen Eisbecher hinterher, zahlen, wir
mussten weiter. Vorbei am „hoogstgelegen bungalowpark van Nederland“ suchten wir
uns eine Route nach Vaals. Lange und staubtrockene Feldwege, schattige, dafür
kurze Passagen durch den Wald, über Wirtschaftswege vorbei an Bolzplätzen,
Hühnerställen und altersschiefen Unterständen für Vieh und rostigem Ackergerät,
klaubten wir uns
den Weg nach Osten Stück für Stück zusammen. Die
Radroute mit ihren Knotenpunkten hatten wir schon lange verlassen. Schotter,
Steigungen, Furchen sind halt nicht das, was Radfahrer erwarten.
Vaals, Vaalserquartier. Ein Bus der Aachener
Verkehrsbetriebe. Halt! Hier muss die Grenze sein. Ein Kiosk mit Stühlen und
Tischen davor. Das war es, die Republik hatte uns wieder.
Altersgerecht?
15. Etappe: Von Aachen nach Mulartshütte
Heimbach
unterhalb der Staumauer des Rurstausees sollte es werden. Damit hatten wir uns
viel vorgenommen. 50 Kilometer, vielleicht etwas weniger, wenn wir Abkürzungen
finden würden. Der Krönungsweg des Eifelvereins sollte unsere Richtschnur sein.
Mit den Abkürzungen ist das so eine Sache. Wenn detaillierte Ortskenntnisse
fehlen, braucht's eine detaillierte Wanderkarte. Wenn möglich 1:25.000. Für die
Strecke ab Aachen hatte ich keine Wanderkarten eingepackt. Die paar Karten
können wir in Aachen kaufen, sofern wir überhaupt über die Eifel an den Rhein
wandern. Bei der Planung schon war das Mittelmeer ganz hinten im Kopf dabei.
Leider sind wir an einem Sonntag in Aachen angekommen,
wenn alle Buchläden geschlossen sind. Wenn nichts hilft, hilft der
Bahnhofsbuchladen. Der hatte geholfen, doch mit Abstrichen. Alle brauchbaren
Karten für unsere Wanderrichtung waren vergriffen. Dem Eifelsteig sei es
gedankt. Wir mussten uns mit einer
50.000-er Karte vom Kompass Verlag begnügen. Damit hatte sich die Sache mit den
Abkürzungen erledigt. Bis zum Montag warten, um anständige Karten zu kaufen,
wollten wir nicht. Keine Zeit. Rund 160 Kilometer trennten uns noch von der
Haustür. Mit den vier, vielleicht auch fünf Tagen, die uns noch verblieben, war
das machbar, sofern wir aufs Tempo drücken würden. Also Tagesziel: Heimbach am
Rursee.
Weit
vor Mittag machten wir Schluss. Nicht nur, dass wir zu spät aus der
Jugendherberge gestartet waren. Während einer langen Kaffeepause in
Kornelimünster wuchs der Verdacht, dass wir einfach müde waren. Etappen jenseits
der 30 Kilometer waren Wunschdenken. Die Motivation war futsch. Neuland war ab
dem Rursee keins mehr zu entdecken. Was uns bei der Planung bewogen hatte, die
Gehrichtung zu ändern, vom Unbekannten ins Bekannte zu wandern, weil es sonst
langweilig werden könnte, kam erneut zum Tragen. Altbekanntes zieht halt nicht
sonderlich.
Tagesleistung: 12 km. Ort: Campingplatz Mulartshütte.
Hauptbeschäftigung Nr. 1: Flucht vor der Sonne. Hauptbeschäftigung
Nr. 2: auf die Öffnung der einzigen Gastwirtschaft warten.
Nach Mulartshütte verirren sich nicht viele Menschen
Der Ort hat 300 Einwohner, eine Kneipe, eine Bushaltestelle und eben einen von
Dauercampern okkupierten Campingplatz. An der Kreuzung wo man zum Campingplatz
abbiegt, wohnt eine Familie, die sich einen nervig kläffenden Hund hält. Der
Hund wollte und wollte sich einfach nicht an uns gewöhnen. Ansonsten wurde die
Sache mit der Uhrzeit ... na ja, zähflüssig.
Unser
Lieblingsplatz wurde der Dorfplatz mit seinen Bänken. Die lagen im Schatten und
von dort konnten wir Mulartshütte kontrollieren. Mittags hielt der Schulbus, dem
3 oder vier Kinder entstiegen. Ein oder zwei Radfahrer surrten durch die ebene
Hauptstraße, gelegentlich ein Auto. Mulartshütte ist von Wald umgeben und liegt
in einem Loch. An diesem Nachmittag sah es danach aus, als wollte alle Welt das
Loch meiden. Zwischendurch erwogen wir sogar den erneuten Aufbruch. Packen und
weiterzieh‘n, nur damit überhaupt was passiert.
Nachmittags würde das stattliche Gasthaus öffnen. Ein
Bruchstein-haus mit Obergeschossen aus Fachwerk. Ein ehemaliges Tuch-macherhaus.
Die Infotafeln kannten wir schon lange auswendig. Unser Trachten und Sehnen
stand nach Kaffee und Kuchen, beides mit Sahne, die obligatorischen Wespen dazu,
fertig wäre die altersgerechte Freizeitgestaltung, redeten wir uns ein.
Kaum
dass der Wirt mit dem Verteilen der Stuhlkissen begonnen hatte, saßen wir an
einem der Tische. Nur Minuten vergingen, bis ein Mercedes um die Ecke bog, dem
Passagiere entstiegen, die in der Mehrheit mit der Handhabung eines Rollators
vertrauter waren, als dem Wissen um die
Fährnisse des Straßenverkehrs. Die Kuchenkarte rauf und runter, den Kaffee bitte
koffeinfrei und für den Fahrer ein alkoholfreies Pils. Meine Frau und ich
bestellten da schon die zweite Runde Kaffee und Kuchen.
Abends wollten wir erneut aufkreuzen, taten wir der
Bedienung kund. Wenn uns der Sinn nicht nach Hunger stehen sollte, hätten wir in
Mulartshütte keine andere Wahl, war deren Antwort. Die Bilanz am Abend: viel zu
wenig Kilometer, dafür ein sattes Plus an Kalorien.
Morgen würden wir die abarbeiten müssen.
Dienstag: Kein Neuland zu erwarten
16. Etappe: Von Mulartshütte nach Heimbach/Rurtalsperre
Bleigrau
hatte sich der Himmel bei unserem Aufbruch zugezogen. Kaum war das Zelt im
Rucksack verstaut, setzte Regen ein. Dünne, lange Regenfäden; grauer, farbloser
Fichtenwald; Himmel, der nicht als solcher zu erkennen war. Der Tag versprach
fürchterlich zu werden. Seitdem wir wandernd unterwegs sind, flüchten wir vor
solchen Tagen, sogar wenn es sich um einen Solitär handelt. Wir
flüchten bis ans sonnige Mittelmeer, nicht, weil wir die Hitze so lieben,
wir fürchten den Regen. Spanische und portugiesische Regenstatistiken können
sich unseres Wohlwollens sicher sein. Eigentlich konnten wir nicht meckern. Mehr
als zwei Wochen
waren wir nun schon unterwegs, und den von uns so sehr gehassten Regen hatten
wir, wenn überhaupt, nur für Minuten ertragen müssen. Die drückend heißen Tage,
an denen wir für jeden Regenschauer dankbar gewesen wären, waren lange wieder
vergessen.
33 km im Eifeler Dauerregen und die komplett durch
eintönigen Wald – das Grauen konnte nicht größer sein. Dann fehlte auch noch die
Markierung des Krönungswegs (HWW 10 des Eifelvereins, Aachen-Bonn). Irgendwo
nach dem Queren der Bundesstraße 399 vermissten wir die Zeichen. Wir waren
stinksauer. Monotoner Regen, langweiliger Fichtenwald, fehlende Markierungen und
zu allem Überfluss eine 50.000-er Wanderkarte aus dem Kompass Verlag.
Quer
durch den Wald, nur dem Gefälle folgen, dann
sollten wir mit etwas Glück direkt an der Kalltalsperre rauskommen, wenn
wir Pech haben sollten, an einem steilen Hang oberhalb des Kalltals. An der
Kalltalsperre war die Markierung wieder da.
Weiter durchs Tal der Kall, durch den Wald. Wald! Wald!
Wald! Seit Stunden schon. Genau wie der Regen fand der langweilige Fichtenwald
kein Ende. Hoch nach Schmidt. Aufatmen. Der Regen hatte aufgehört, auch der Wald
war weg. Es hatte aufgeklart. Endlich freie Sicht übers Hochplateau, zu den
himmelhohen Windschutzhecken hinten denen viele Häuser komplett verschwinden.
Menschenleer waren die Straßen in Schmidt an diesem Regennachmittag. Wir mussten
nur noch hinunter an den Rurstausee, auf den Uferweg.
Ab da waren wir nicht mehr auf unbekannten Wegen
unterwegs. Am Ufer des Rurstausees entfiel ein ganz wesentlicher Grund, warum
wir Weitwanderungen, gar Fußreisen machen: Neues war nicht mehr zu erwarten.
Fotos: Werner Hohn
Erschienen in "Wege und Ziele" Zeitschrift des Vereins Netzwerk Weitwandern e.V. Ausgabe 39 - Dezember 2012
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